Название: Von kommenden Dingen
Автор: Walther Rathenau
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783940621368
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Darum darf dennoch nicht die Gegenfrage gestellt werden: Warum sollen wir Formen und Güter des Lebens achten und pflegen, wenn nicht sie, sondern Stille und Betrachtung das Höchste schaffen? Das irdische Leben bedeutet die Formation und Waffe, die dem Geiste verliehen ist, darin er um sein Recht, Dasein und Künftiges kämpfen soll; ist er tauglich zum unsichtbaren Kampf, so soll er auch zum sichtbaren Kampf tauglich sein. Das edle Geschöpf schafft sich Schönheit, das gesunde schafft sich Glück, das starke Macht; nicht um dieser Güter selbst willen, sondern als irdisches Kleid seines geistigen Daseins; nicht strebend und gierend, sondern selbstlos und selbstverständlich. Und wie der Träger die Waffe beherrscht, so wirkt die Waffe zurück auf den Träger; das Volk, das die Kraft hatte, schön zu werden, findet in seiner Schönheit einen neuen Ansporn zum innern Adel. Freilich steht dem Armen und Verachteten die Pforte des Seelenreiches doppelt offen; aber sein Wille sie zu suchen wird beflügelt, wenn ein edles [59] Volk von seiner Kraft und Sehnsucht ihm mitteilt. Unter Reichen freiwillig arm zu sein ist schön und trägt evangelischen Sinn; im Bettlervolk ein Bettler bildet keinen Kontrast und kein spezifisch sittliches Verdienst. Der Einzelmensch ist Endzweck; in ihm endet die Reihe der sichtbaren Schöpfung und beginnt die Reihe der Seele; ist in ihm die Seelenkraft erwacht, so bedarf er nicht mehr der irdischen Vorzüge und Vorteile; Armut, Krankheit, Einsamkeit müssen ihm dienen und ihn segnen; das Volk aber ist seine Mutter, die ihn im Erdendasein überlebt, sie braucht Schönheit, Gesundheit und Kraft zum ewigen Werke des Gebärens. Hier löst sich der Widerspruch: Was heißt es, nichts für sich begehren und dennoch für den Nächsten sorgen, der doch auch seinerseits nichts begehren sollte? Der Nächste und der Fernste sind unser aller Mutter und Brüder zugleich; damit sie leben und zeugen, ist unser Einzelleben ein geringer Preis. Deshalb ist es nicht unwürdig noch materiell befangen, der Gemeinschaft die Güter und Kräfte zu ersehnen und zu schenken, die man für sich selbst nicht achten soll.
2. Die zweite Vorfrage lautet: Wie sind pragmatische, der Menschheitslage gewidmete Entwürfe zu rechtfertigen; welche Beweiskraft liegt ihnen bei, welche Beweislast liegt ihnen ob?
Es wurde erwähnt, auf das Recht, Ziele zu finden, hat die Wissenschaft verzichten müssen. Für alles schöpferische Denken aber ist das Ziel entscheidend, nicht der Weg, die Frage schwerer als die Antwort. Und wiederum ist es leichter, sie zu finden, als sie zu suchen. Denn hier versagt die intellektualeKraft; die vermag eine Reihe von Beschwerden und Unzuträglichkeiten des Bestehenden zu sammeln und [60] zu sagen: dies sollte nicht sein — (obwohl sie Prüfung und Übel, segensreiche und schädliche Not nicht zu unterscheiden vermag) —, doch niemals kann sie bestimmen: dies ist als höchstes Gut der Menschheit beschieden und erreichbar, dies sollen wir erstreben, müssen wir erringen. Denn all unser Willen, soweit er nicht animalisch ist, entspringt den Quellen der Seele. Jedem schrankenlosen Verehrer des intellektualen Denkens sei es von früh bis spät wiederholt: Der größere und edlere Teil des Lebens besteht aus Wollen. Alles Wollen aber ist unbeweisbares Lieben und Vorlieben; es ist seelisches Teil, und neben ihm steht der zählende, messende und wägende Intellekt abseitig und selbstbewußt als Theaterkassierer am Eingang zur Bühne der Welt.
Was wir schaffen, geschieht aus tiefstem, wissenlosen Drang, was wir lieben, ersehnen wir mit göttlicher Kraft, was wir sorgen, gehört der unbekannten künftigen Welt, was wir glauben, lebt im Reiche des Unendlichen. Nichts davon ist beweisbar, und dennoch ist nichts gewisser; nichts davon ist greifbar, und dennoch geschieht jeder wahre Schritt unsres Lebens im Namen dieses Unaussprechbaren. Was tun wir vom frühen Morgen bis zum späten Abend? Wir leben für das, was wir wollen; und was wollen wir? Das, was wir nicht kennen und nicht wissen und dennoch unverbrüchlich glauben.
Dieser Glauben aber hat eine stärkere Evidenz als die des intellektualen Beweises. Was Plato, Christus und Paulus beweislos sprachen, kann jeder Rabulist widerlegen, und dennoch stirbt es nicht; und jedes dieser Worte hat ein wahrhafteres Leben und mehr Glauben entzündet als irgendeine physi- [61] kalische, historische oder soziale Theorie. Fragen wir, was im strengsten Sinne beweisbar sei, so hält selbst die euklidische Geometrie nicht stand; wenn dennoch die Welt von tiefster Wahrheitsempfindung immer wieder durchdrungen wird: was ist das Merkmal der lebendigen Wahrheit?
Es ist die Kraft, mit der sie an die Herzen schlägt. Jedes echte Wort hat klingende Kraft, und jeder Gedanke, der nicht in den Labyrinthen des dialektischen Verstandes sondern im blutwarmen Schöße der Empfindung geboren ist, zeugt Leben und Glauben. Deshalb ist alles Beweisen nur ein Überreden, gutgläubige Täuschung. Glaubt ein Mensch sich berufen, Wahrheit zu zeugen, nicht weil er sie denkt, sondern weil er sie schaut und erlebt, weil die Welt, die er im Geiste fühlt, ihm wirklicher ist als die er mit Augen sieht, so mag er reden. Ist er ein Verblendeter, so wird er mit seinem Staube den Weg dessen ebnen, der nach ihm und aus der Wahrheit kommt. Ist ihm aber auch nur ein einziges Wort verliehen, das Leben trägt, so wird es, nackt und unbewehrt in die Welt gestreut, zur Saat der Herzen. Das gilt vom Ziele. Versucht einer aber, nicht bloß das Ziel zu sichten, sondern auch dem irdischen Schritt den Pfad zu weisen, so ist es abermals auf dieser tieferen Ebene der Pragmatik nicht Überredung und Beweis, was ihm den Gang, den andern die Folge erhellt. Nie hat ein Führer oder Vorläufer vermocht, die lückenlose Beweiskette seiner Pläne auszubreiten, und hätte er's, so wäre das simple Thersiteswort: „Es geht nicht“ unübersteiglich ihm entgegengeschleudert worden. Das einzige, was in der Welt nachwirkt, wenn der Sturm [62] der Gegenreden verrauscht, ist die Forderung an das Gewissen. Sie redet leise, und sie wiederholt in der Stille der Nacht, was der Lärm des Tages übertäubt; sie spricht nicht in eines Menschen Namen, sondern im Namen des Lebendigen. Und indem sie immer den gleichen einfachen Weg bezeichnet, läßt sie offenbar werden, daß nicht ein erkünsteltes Projekt, sondern ein erschautes Müssen und Mögen uns bevorsteht. Deshalb kann auch das pragmatisch Geplante uns überzeugen, ohne zu beschwatzen; darin gleicht sich der gesunde Vorschlag des Geschäftsmannes und der Schlachtruf des Propheten, daß ein zwingend Notwendiges fühlbar wird, das im Geist nachklingt und tönend anwächst. Auch hier gilt kein Beweis; sondern Intuition erzwingt Einfühlung, Geschautes wird greifbar. Fehlt einer Darlegung diese kindliche Kraft, so bleibt sie gelehrtes Gedankenspiel und Ästhetenfreude, gepanzert wie sie sei mit Anmerkungen, Nachweisen und Tabellen.
So bürgt für das Ziel das Herz, das Gewissen für den Weg; und diese strenge Mahnung mag den Schreiber aufrichten, wenn der die Schwäche des Wortes erkennt; ihn demütig machen, wenn er sich von Lieblingsgedanken fortreißen läßt. Der Leser aber sei auf der Hut vor dem Gedanken, der sich Beweiskraft anmaßt, er richte nach dem, was in seinem Innern anklingt, mit Strenge, aber in Wahrheit.
3. Und endlich: Wenn unser Leben im höchsten Sinne den äußern Bedingungen enthoben ist, wenn Einrichtungen niemals Gesinnungen schaffen können, wenn alles äußere Dasein nur die Muschelschale, den Maskenausdruck des seelischen Erlebens [63] bedeutet; bleibt es würdig und angemessen, dem künftigen Gang des Gleichnisses vorzuspüren, statt gläubig dem Wege des Geistes zu folgen, in der Gewißheit, daß er auch dem Körperschritt Bahn läßt?
Wir sind in dieses leibliche Dasein gestellt als in ein Gleichnis, um es zu begreifen; als in einen Preiskampf, um ihn zu bewältigen. Was wir dem Geiste abringen, wird Wirklichkeit des Lebens, versteinert zur Stufe für neuen Aufstieg. Solange nur, als er Handwerker bleibt und Meister des Werkzeuges, wird der Künstler das Erlebnis seines Herzens unverdorben und unverfälscht aus seinem Innern lösen; Stoff und Werkzeug des Denkenden aber ist die Welt, und der Gedanke gewinnt die volle Kraft seiner Wahrheit erst dann, wenn die Welt, an ihm gemessen, organisch und möglich bleibt. Wer es jemals versucht hat, Gedanken, die der freien Region der Überzeugung entstammen, im Boden der Wirklichkeit zu verankern, wer die harte, stets unbelohnte Mühe dieser der Menge unvorstellbaren Arbeit kennt, der verliert den Respekt vor symmetrisch gerundeten Theoremen und schönen Denkfehlern, die aus Unterschätzung sinnlicher Erscheinung sprießen. Das Evangelium wäre sterblich, wenn es als abstraktes Gesetz auf Pergament stände, und kehrte sein Verkünder wieder, so würde er nicht wie ein studierter Pastor in antiquarischer Sprache СКАЧАТЬ