Название: Cardiff am Meer
Автор: Joyce Carol Oates
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783955102487
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Wenn allerdings einer ihrer Freunde den Kontakt zu ihr nicht pflegt, dann ist sie tief verletzt, beunruhigt.
Ihre Gefühle anderen gegenüber sind kurzlebig, aber kraftvoll. Wie ein Feuer, das heiß auflodert und dann schnell abkühlt.
Fühlen andere genauso? Es gab Männer – es gab Frauen –, die Clare mochten, von denen sie sich aber rasch zurückzog.
Seit sie erwachsen ist, hatte Clare eine ganze Reihe von Liebhabern. Genauso wie eine ganze Reihe von Freunden. Viel mehr Freunde als Liebhaber, aber viel mehr Liebhaber als Verwandte. Bis jetzt.
»Ach, verdammt. Was soll’s?«
Spontan entscheidet sie, eine Flasche Wein zu öffnen. Chardonnay, den sie vor einigen Wochen gekauft hatte, um Freunde zum Essen einzuladen, doch es war etwas dazwischengekommen. Erst mal etwas feiern, denkt Clare.
Die Nerven beruhigen. Ausnahmsweise.
Noch nie hat Clare allein getrunken. Allein trinken ist eine sehr bewusste Entscheidung. Hat etwas Trauriges. Sie leert ihr Glas, wie aus Trotz.
Es ist Zeit, zu Hause in St. Paul anzurufen. Ihr Plan ist es, zu einer Zeit anzurufen, zu der ihr Vater höchstwahrscheinlich nicht zu Hause ist, ihre Mutter aber schon.
Nicht, dass Clare Walter nicht liebt. Aber Gespräche mit ihrem (Stief-)Vater sind manchmal etwas heikel. Clare konnte mit Hannah immer viel offener sprechen, herzlicher als mit Walter, und doch konnte sie auch mit Hannah (so scheint es Clare) nie reden ohne dieses Gefühl von – nennt man es Unbehagen …?
Clare hat Glück, Walter ist nicht zu Hause. Hannah nimmt schon nach dem ersten Klingeln den Hörer ab, sie scheint ungeduldig, einsam.
Clare spürt einen Hauch von Vorwurf in Hannahs Begrüßung. Clare versucht sich zu erinnern – ist sie ihrer Mutter einen Anruf schuldig? Hat sie vergessen zurückzurufen, nachdem Hannah eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zurückgelassen hat? Es passiert öfter, dass Clare versehentlich Hannahs Nachrichten in ihrer Sprachbox löscht.
Clare will Hannah anrufen, um ihr die guten Nachrichten mitzuteilen, aber irgendwie kommt es nicht dazu. Stell dir vor, Mom, ich habe gute Nachrichten! – diese fröhlichen Worte bleiben aus.
Clares Worte gleiten vielmehr einfach so dahin, dies und das aus ihrem eigenen (privaten) Leben. Sie ist dankbar, dass Hannah sie mit einem Haufen Klagen über einen Erzfeind bei der Arbeit überschüttet, ein Kollege, der – wie es Clare scheint – Hannah Seidel schon seit Jahrzehnten das Leben schwermacht. Es macht ihr nichts aus, so wie es ihr früher etwas ausgemacht hat, dass Hannah sich nicht daran erinnert, ihr das alles schon einmal erzählt zu haben. In einer Familie sind alte Nachrichten gute Nachrichten, denkt sie in einem Anflug von Witz.
Dann hört Clare sich selbst eine ungewöhnliche Frage stellen: Weiß Hannah, ob Clares biologische Eltern noch leben? – eine Frage, die ihr Gespräch zu einem abrupten Ende führt.
Biologische Eltern. Ein klinischer und liebloser Begriff, aber doch noch besser (denkt Clare schuldbewusst) als leibliche Eltern.
»Aber – warum fragst du das, Clare – jetzt?«
Hannahs angestrengte, forcierte Stimme schaltet einen Gang zurück. Clare kann fast sehen, wie sich im weit entfernten St. Paul, Minnesota, ihre Augen verengen, ihr Mund schmal wird, wie eine böse Wunde.
Clare sagt, ihr lag diese Frage schon lange auf den Lippen. Sehr lange …
»Aber warum?«
Warum denn, du hast doch uns. Warum interessierst du dich für sie!
»Warum? Das ist doch wohl eine ganz natürliche Frage … Ich bin dreißig Jahre alt.«
»Dreißig Jahre alt! Was hat das denn damit zu tun?« Hannah ist wirklich fassungslos, ungehalten.
»Das heißt – ich bin kein Kind mehr …«
»Clare! Das haben wir dir doch alles erklärt. Vor vielen Jahren schon. Erinnerst du dich nicht?«
»Ich – ich – ich glaube nicht, dass ich mich erinnere …«
Clare versucht sich zu erinnern – an was genau, weiß sie nicht.
»Wir haben selbst nur sehr spärliche Informationen bekommen, Clare. Und es ist so lange her. Länger als ein Vierteljahrhundert, seit du in unser Leben getreten bist, aus dem Unbekannten.« Hannahs Worte haben einen vorwurfsvollen Unterton, so als wäre das alles Clares Schuld.
Aus dem Unbekannten. Ein bohrender Stachel.
»Deinem Vater und mir wurde nur sehr wenig über dich mitgeteilt, und nichts an diesen Informationen hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Alles, was wir wissen, haben wir dir vor vielen Jahren erzählt.«
Clare hört zu, nachdenklich. Sie bringt es nicht übers Herz, zu sagen: Aber ich erinnere mich nicht. Ihr müsst es mir noch mal erzählen. Bitte!
»Ich habe mich nur gefragt, ob ihr wisst – ob sie noch leben. Oder – ob …«
Hannahs Stimme tönt jetzt laut in der Leitung, aber belegt: »Wir haben nie erfahren, ob es sie gab, oder nur eine sie – eine Mutter. Ein Autounfall – sagte man uns –, aber Einzelheiten darüber haben wir nie erfahren. Keine Ahnung, wie alt deine biologischen Eltern damals waren. Du musst verstehen, Clare, es ist so lange her, und man hat damals anders über diese Dinge gedacht. Ein Kind zur Adoption freizugeben, war wie eine Schmach, und ein Kind zu adoptieren war ebenfalls damit behaftet, man hatte sozusagen Mitschuld an der Schmach, man war so etwas wie ein Mittäter, wenn man seinen Nutzen aus dem Unglück anderer zog. Wir mussten mithilfe einer katholischen Vermittlungsagentur bei der Planned Parenthood Agency in Minneapolis vorsprechen. Diese Organisation bestand darauf, gegenseitige Anonymität zu sichern, wenn eine der beiden Seiten dies wünschte – die Adoptiveltern oder die – anderen …«
Clare ist verblüfft über Hannahs Ausbruch. Niemals zuvor hat ihre Mutter so freiheraus mit ihr gesprochen. So langsam kommt ihre Erinnerung zurück.
Anonymität. Versiegelte Dokumente.
Frag nicht. Sinnlos.
»Mehr konnten wir nicht tun, Clare. Wir konnten nicht auf weitere Informationen drängen, auf die wir gar keinen Rechtsanspruch hatten. Wir hatten, ehrlich gesagt, gar keine Ahnung, was wir da taten – ein Baby zu adoptieren war vollkommen neu für uns. Das war eine sehr emotionale Zeit damals. Wir hatten erwartet, dass wir einen Säugling bekämen – natürlich – aber wir waren dann sehr dankbar dafür, dich zu bekommen …«
Hannahs Stimme verstummt allmählich, so als ob sie erst im Nachhinein merkt, was sie gerade sagt.
»Clare? Wir wollten immer nur das Beste für dich.«
Was sollte denn wohl diese Bemerkung? Was war denn das Beste für – wen?
Ganz benommen versichert СКАЧАТЬ