Название: Cardiff am Meer
Автор: Joyce Carol Oates
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783955102487
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Es geht um Eigentum, Besitz. Ein Kind wird einem Erwachsenen oder zwei Erwachsenen überlassen – überlassen durch die Geburt, manchmal auch durch eine Agentur.
Vielleicht hat sie ja diesen Namen – Donegal – in ihrer Geburtsurkunde gesehen. Vor langer, langer Zeit, hat aber keinen großen Eindruck bei ihr hinterlassen, sie kann sich (wirklich) nicht daran erinnern.
Jede Adoption ist ein großes Rätsel – Warum?
Warum gab man mich auf, gab man mich weg? Warum war ich unerwünscht?
Von wem war ich unerwünscht?
Doch Clare Seidel war und ist die perfekte (Adoptiv-)Tochter. Clare fragte und fragt nicht.
Ein dankbares Kind fragt nicht nach dem Warum.
Die Seidels waren schon älter. Hätten die Großeltern dieses adoptierten Kindes sein können. Beide waren Lehrer aus Berufung – Pädagogen. Im Laufe ihrer siebzehnjährigen Ehe hatten sie keine Kinder bekommen, obwohl (wie Clare schlussfolgerte) sie es versucht hatten. Kurz bevor sie Clare adoptierten, war der geliebte Hund der Seidels gestorben. Clare hat Bilder von diesem ungestümen Airedaleterrier gesehen, Seite an Seite mit Herrchen und Frauchen, die ihn offensichtlich vergötterten. Das hatte ihr einen tiefen Stoß versetzt: Eifersucht, Angst. (Wenn der Airedale nicht mit zwölf Jahren gestorben wäre, so wie es eben damals geschehen war, würde diese Person, diese Clare Seidel, dann überhaupt existieren?) Die Seidels hatten es nicht akzeptieren wollen, dass das Leben sie betrogen hatte. Sie hatten doppeltes Einkommen, zwei Autos, ein Haus mit angemessener Hypothek. In jedem August mieteten sie für zwei Wochen ein Cottage am Lake Superior. Sie waren dankbar dafür, dieses Waisenkind – Clare – zu haben, denn Clare würde später auch dankbar dafür sein, sie zu haben.
Verletze Dads Gefühle nicht! Er darf nicht den Eindruck bekommen, er wäre nicht dein Dad, denn er ist es doch.
Es gibt keinen anderen Dad und keine andere Mom für dich. Es gibt – nur uns.
Instinktiv begriff Clare. Sie verstand. Sie war ihr (angenommenes) kleines Mädchen, das niemals nach dem Warum fragte.
Ein (angenommenes) Kind fragt niemals, Warum wolltet ihr gerade mich?
Konntet ihr keine eigenen Kinder haben, und darum habt ihr mich angenommen?
Keine Fragen bitte! Undenkbar.
Ein (angenommenes) Kind fragt niemals, Wo komme ich denn her? Zu wem gehörte ich, bevor ich an euch abgegeben wurde?
Später, in der Schule, fühlte Clare einen Anflug von Stolz, wenn der Lehrer mit einem Lächeln versuchte, diesen besonderen Namen auszusprechen, der ihr gehörte, Sei-del.
Großes Vergnügen bereitete es ihr, als sie schließlich selbst schreiben konnte:
Clare Seidel
Clare Seidel
Clare Seidel
Doch all dies, dieser Teil ihres Lebens, ihre allerersten Jahre, sie scheinen nun nicht mehr ihre zu sein.
4.
Am folgenden Tag kommt die Post von Lucius Fischer an. Clare erfährt, dass sie knapp fünf Hektar Land, ein Haus mit Nebengebäuden in der Post Road 2558, in Ashford County, Maine, geerbt hat.
Grundbesitz! Besser als bares Geld, das keinen bleibenden Wert hat; Grund und Boden, das ist etwas, das Clare besitzen kann.
Viele Male überfliegt sie den Begleitbrief des Rechtsanwalts, doch sie kann keine neuen Informationen entdecken. Keinen persönlichen, freundlichen Nachsatz – Herzlichen Glückwunsch, Miss Seidel!
Wirklich nur ein ordnungsgemäßer, formeller Brief auf steifem Papier mit dem Briefkopf
ABRAMS, FISCHER, MITTELMAN, & TROTTER.
Fischers Unterschrift ist nahezu unleserlich. Sie hatte einige Tage zuvor solch eine merkwürdige, innere Nähe zu ihm verspürt …
So haben wir uns kennengelernt. Durchs Telefon.
Durch das Testament meiner Großmutter.
Lächelt bei dem Gedanken daran, wie diese Geschichte aus einem zukünftigen Blickwinkel heraus erzählt werden könnte. Wie sich ein Leben (zufällig) mit einem anderen Leben kreuzt, und sich beide Leben dadurch für immer verändern.
… es war purer Zufall! Das Telefon klingelte, ich ging dran, und Lucius war am anderen Ende und sagte: Hallo? Spreche ich mit Clare Seidel?
Hat mein Leben vollkommen auf den Kopf gestellt. Und seins.
Clare sieht den Sommer an der Atlantikküste. Glasfront mit Blick auf den Ozean. Große Hemlocktannen, eine kurvige Landstraße. Geröllstrände. Herandonnernde, graublaue Atlantikwellen, selbst im Sommer zu kalt zum Schwimmen. Unablässiger Wind.
Sieht sich in weißen Kleidern, eine traumhafte Schönheit aus einem Aquarell von Winslow Homer. Schreitet die Steinstufen zum Strand hinunter. Hinter ihr eine geheimnisvolle Figur …
Fast kann Clare das Gesicht des Mannes erkennen. Aber in dem Moment, in dem sie es anstarrt, löst es sich nach und nach auf. Verschwimmt hinter Tränen.
Nein: Sie wird das Anwesen verkaufen. Wenn sie kann.
Niemals wird sie draußen in Ashford County, Maine, leben. Ihr Job verlangt, dass sie in großen Städten zu Hause ist, immer in der Nähe von Forschungsinstituten.
Fischer hat Clare darüber informiert, dass sie dreißig Tage Zeit hat, um ihre Ansprüche im Nachlassgericht von Ashford County geltend zu machen. Sie fragt sich – wie viel ist das Anwesen wohl wert? Lohnt sich die ganze Mühe?
Clare könnte das Geld gut gebrauchen. Sie ist dreißig Jahre alt und hat immer nur als Aushilfe gearbeitet, Zeitverträge, an der Uni. Wenig Geld auf dem Sparbuch. Sie sah sich immer gerne als Mensch, der von materiellen Dingen unabhängig ist. Obwohl sie eine Schwäche für schöne Dinge hat, muss sie diese nicht besitzen.
Landschaften, Kunst. Musik. Darin kann man Vergnügen finden, ohne sie zu besitzen.
So wie man auch Vergnügen an Menschen finden kann, an Liebhabern – ohne dass sie einen besitzen.
Sie wollte nie heiraten, geschweige denn Kinder haben. Schreiende Babys erfüllen sie mit Schrecken. Kreischende Kinder erfüllen sie mit Panik. Ein (ehemaliger) Liebhaber beschwerte sich, dass Clare häufig »wegdriftete«, wenn er mit ihr zusammen war: Er wusste nie, wo zum Teufel ihre Gedanken waren, aber er konnte fühlen, dass sie nicht bei ihm waren.
Clare zuckt noch immer zusammen, wenn sie nur daran denkt. Sie bereut es, eine andere Person verletzt zu haben.
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