Название: Zeitstrukturen
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Theologisch-praktische Quartalschrift
isbn: 9783791761985
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Dieser Modus tritt, wie die Bezeichnung nahelegt, mit der Moderne auf, die hier sehr weit und mit großen Übergangsphasen gefasst wird. Hans-Willy Hohn charakterisiert sie zeittheoretisch sehr schön bildhaft als die Epoche, in der „aus einem göttlichen Gut eine Handelsware wurde“19. Was die Strukturierung von Zeit betrifft, unterscheidet sich dieser Modus vom autoritären dadurch, dass erstens die allgemeine Verzeitlichung der Gesellschaft, das heißt die Durchdringung aller Teilsysteme mit zeitlichen Referenzen bzw. Vorgaben stark vorangeschritten ist, dass sich die Bedeutung von Zeit im Alltag der Menschen also bei weitem nicht mehr nur auf die zeitlichen Vorgaben des geltenden Kalenders beschränkt. Fast alle Lebensbereiche werden nun mehr oder weniger in Abhängigkeit eines heterogenen Bündels zeitlicher Normierungen bewertet, in die sich die Menschen, ohne gefragt zu sein, einzufügen haben. Dadurch entstehen u. a. so genannte „Time Scapes“, Zeit-Landschaften20. Äußeres Anzeichen für ein zunehmend engmaschiges Netz der Zeit ist unter anderem die wachsende Verbreitung von Uhren seit Beginn der Industrialisierung, nicht nur in den Städten.21
Der marktlich-technologisch-administrative Strukturierungsmodus, der charakteristisch ist für die Phase der ersten industriellen Moderne, setzt sich gleichsam aus drei Komponenten zusammen, und zwar a) der Zeitlogik des Marktes, b) den Zeitnormen moderner Technologien, c) der Wirkung staatlicher bzw. öffentlicher Institutionen und ihrer Administrationen auf die Strukturierung der geltenden Zeitordnung.
3.1.2.1 Marktlogik
Charakteristisch ist das Vordringen zum einen des Prinzips „schneller ist besser“ sowie eines Rationalisierungsimperativs, der darin besteht, bereits reduzierte Aufwandszeiten im unendlichen Regress weiter und weiter zu reduzieren; ich habe diesen als das Prinzip der „infinitesimalen Verwendungslogik der Zeit“22 bezeichnet. Dieser Mechanismus hat tendenziell die Wirkung, die Rechtfertigungsordnungen der alten, vormodernen Gesellschaftsformationen, repräsentiert durch politische Herrscher oder dominante religiöse Institutionen und deren Weltsichten, zu de-legitimieren: Die Marktlogik und ihre zeitlichen Implikationen hinterlassen auf längere Sicht einen Bedeutungs- und Machtverlust des Politischen und des Religiösen. In dem Ausmaß, wie sie von Modernisierungsprozessen erfasst worden sind, strukturieren nun anstelle autokratischer Herrscher/innen und ihres Machtapparates anonyme, aber nicht weniger unabweisbare, abstrakte Wirkmechanismen die Zeiten der Gesellschaft. An die Stelle der Hegemonie eines oder mehrerer handelnder personaler Subjekte und der ihnen unterworfenen Institutionen treten nun die stummen Handlungs-Logiken der gesellschaftlichen Teil-Systeme Wirtschaft und Technologie. Die Zeiten des Marktes bzw. die hiermit ausgelöste Verwendungslogik der Zeit – dass nämlich komparativ zu Wettbewerbern längere Aufwandszeiten zu vermeiden sind, weil sie zu suboptimalen wirtschaftlichen Ergebnissen führen – können, anders als etwa Kalenderzeiten, also nicht mehr politisch gesteuert werden.
Vielmehr entstehen die Zeiten des Marktes in Selbstorganisation, das heißt in Form einer nicht von den Teilnehmenden an Marktprozessen zuvor abgesprochenen Institutionalisierung von Regeln, darunter auch zeitlichen. Gleichwohl benötigt auch die marktlogische Form in den Kommunikationsprozessen und die hieraus entstehende Zeitstrukturierung einer Gesellschaft, bis hinein in die kleinen Teilsysteme, eine dahinterstehende Rechtfertigungsordnung. Diese speist sich im Wesentlichen aus erstens dem Narrativ relativen gegenseitigen Nutzens der an einer derartigen ökonomischen Kommunikation teilnehmenden Subjekte; wie es u. a. von den Klassikern der Politischen Ökonomie, A. Smith und D. Ricardo, theoretisch verdichtet worden ist. Zweitens ist damit die Behauptung der maximal sparsamen Verwendung knapper Ressourcen verbunden (effiziente Allokation) sowie drittens das Versprechen einer nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch freien Gesellschaft. Darüber hinaus wird, vermittelt über die anderen Punkte, dem Markt als denkbar bestes Instrument des Ausgleichs unterschiedlicher wirtschaftlicher und politischer Interessen, eine friedensstiftende Funktion zugeschrieben – innerhalb eines Gemeinwesens ebenso wie im internationalen Warenaustausch. Damit kann das Prinzip der optimalen wirtschaftlichen Nutzung der Zeit als sinn-freies Regelwerk wirtschaftlichen Austausches seine hegemoniale Stellung begründen, womit Zeitökonomie nun, außer auf dem Feld wirtschaftlicher Interaktion, generell in Konkurrenz zu den sinn-haltigen Strukturbildnern Politik und Religion tritt, welche die vorangegangenen Epochen bestimmt hatten.23
Konkrete Akteure gesellschaftlicher Zeitstrukturierung werden mit der Durchsetzung kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Strukturen in der Moderne zunehmend vor allem Wirtschaftsunternehmen und, seit ihrem Erstarken Ende des 19. Jahrhunderts, die Organisationen der Arbeiterbewegung bzw. Arbeitnehmervertretungen. Ihre Verhandlungsergebnisse bilden die jeweils möglichen zeitlichen Kompromisse eines historischen Zeitabschnitts zwischen dem Anspruch der Ökonomie und dem Anspruch des Humanums ab. Wobei Letzteres über die bloße Wiederherstellung der Arbeitskraft hinausweist und die gerechte Teilhabe am erreichten Wohlstandsniveau der Gesellschaft einschließt – hier, in der zeitlichen Dimension, in Form von „Zeitwohlstand“.24 Damit prägen die Tarifparteien wie niemand anderer die zeitliche Struktur der modernen Gesellschaft im Tages-, Wochen- und Jahresverlauf. Andere Teilsysteme, wie etwa die Verkehrsinfrastruktur, richten sich danach aus. Bestehende Strukturen stehen jedoch stets unter Veränderungsdruck: Sowohl infolge technischen Wandels als auch wirtschaftlicher Einzelinteressen lässt sich seit Beginn der Industrialisierung bis in die Gegenwart hinein die Tendenz beobachten, zeitliche Regularien wo immer möglich wieder zugunsten der Anpassung an die im Marktmechanismus inkarnierte Zeitlogik zu revidieren, etwa wenn es um Aufweichung des Sonntagsruhegebots geht.25
3.1.2.2 Technologie
Die Zeiten der Gesellschaft werden weiterhin durch die in moderne Technologien gleichsam eingebaute Verwendungs-Logik der Zeit geprägt, wobei diese wiederum eng an die Marktlogik gekoppelt ist. Die neuzeitliche Technologie setzt jedoch proprietäre Impulse, welche die Verzeitlichung der Gesellschaft weiter vorantreiben. Das Paradebeispiel einer modernen Technologie scheint auf den ersten Blick die mechanische Uhr, die unter anderem Jean Gimpel als die „Key-Machine“ der Transformation der nachmittelalterlichen Gesellschaft auf dem Weg in die industrielle Moderne bezeichnet hat.26 Die zeitliche Logik, die der industriellen Moderne zugrunde liegt, lässt sich jedoch besser an der Eisenbahn verdeutlichen. Denn während die Uhr als Maschine lediglich die Zeit zählt und sich darin nicht verändert, tendiert die Eisenbahn dazu, sich zeitlich immer wieder selbst zu optimieren, indem sie ihre Höchstgeschwindigkeit steigert.27 Erst auf Basis dieser Steigerungslogik verkörpert eine Maschine tatsächlich die Logik der neuen industriellen Epoche: So kann seitdem kein technisches Aggregat als effizienter gelten, das für ein identisches Arbeitsergebnis mehr Zeit benötigt als das vorauslaufende Modell.28 Da das Steigerungsspiel infiniter zeitsparender Verbesserung29 wie gesagt gleichsam in die industrielle Technologie eingebaut ist, kommt deren Zeitstrukturierungsfunktion ebenso wie der Markt ohne einen personalen Akteur aus. In der Praxis sind es dann Wirtschaftsunternehmen bzw. deren Entwicklungsbüros sowie die technische Forschung, welche die zeitliche Steigerungslogik praktisch-organisatorisch in technische Aggregate umsetzen.
Technologien wirken über das bisher Gesagte aber auch zeitstrukturierend, indem sie aus der Logik ihrer Anwendung heraus ständig neue Maßstäbe bzw. Messgrößen von Zeit generieren: Wer den Weltraum erkunden will, muss einerseits in zeitlichen Dimensionen von Lichtjahren kalkulieren, um die Funktionszusammenhänge des Alls zu verstehen. Wer einen der Planeten erreichen will, muss jedoch gleichzeitig, allein um eine dementsprechende Zielgenauigkeit der Flugkörper zu erreichen, Maschinen entwickeln, die sich im Raster unvorstellbar kleiner Zeiteinheiten von Zepto-Sekunden bewegen können, was 10 hoch minus 21 Sekunden entspricht. Spätestens mit der Realisierung selbststeuernder Autos werden solche Zeit-Skalen auch relevant für die zeitliche Strukturierung vieler Bereiche unseres Alltags sein.
3.1.2.3 Politik und Administration
In demokratischen Gesellschaften werden, wie andere lebensweltliche Rahmenbedingungen, auch die Zeitstrukturen des öffentlichen Raumes weithin demokratisch generiert. Zu den großen hoheitlichen Aufgaben СКАЧАТЬ