Название: Zeitstrukturen
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Theologisch-praktische Quartalschrift
isbn: 9783791761985
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Zeitstrukturen sind die gestalthaften Erscheinungsformen von Zeit im konkreten Lebenszusammenhang der Menschen: Da die Zeit ihnen ansonsten als solche, gewissermaßen in ihrer reinen Form kaum begegnet, erfahren sie diese normalerweise als eine vielgestaltige Ansammlung sozialer Ordnungs- und Orientierungssysteme, an denen sie ihr Handeln ausrichten müssen, wollen sie nicht aus der Gesellschaft herausfallen. Bereits dies legt die Vermutung nahe, dass die Fähigkeit zur allgemeingültigen Strukturierung von Zeit in einer Gesellschaft mit Macht und Herrschaft einhergeht, religiöser ebenso wie politischer und wirtschaftlicher. Tatsächlich wird man bei der Suche nach den Kreateur/inn/en und Protagonist/inn/en gesellschaftlicher Zeitstrukturen rasch fündig, wenn man die religiösen Verhältnisse und weltlichen Herrschaftsstrukturen unterschiedlicher Epochen in unterschiedlichen Kulturen bis in unsere Gegenwart hinein betrachtet. Dabei stellt man unter anderem einen historischen Wandel der Art und Weise fest, wie und von wem Zeitstrukturen generiert werden. Wie stellt sich dieser Wandel der Strukturierungsmodi für uns auf der Erscheinungsebene sozialer Tatsachen3 dar und welche Auswirkungen hat er für Individuum und Gesellschaft? Im Folgenden sollen diese Zusammenhänge in der gebotenen Kürze dargestellt werden.
2 Zeitordnungen und Rechtfertigungsordnungen
Die Zeitordnung, die in einer Gesellschaft jeweils vorherrscht, beruht auf einer je unterschiedlichen Rechtfertigungsordnung. Rainer Forst erklärt deren Bedeutung so: Alle „normativen Ordnungen“ einer Gesellschaft beruhen auf basalen Rechtfertigungen und dienen dementsprechend der Untermauerung von sozialen Regeln, Normen und Institutionen; sie begründen Ansprüche auf Herrschaft und eine bestimmte Verteilung von Gütern und Lebenschancen. „Normative Ordnungen setzen Rechtfertigungen voraus und generieren sie zugleich.“4 Als wesentlicher Bestandteil einer Gesellschaftsordnung benötigen auch Zeitordnungen einen Begründungszusammenhang auf einer höheren Ebene. Derzeit erleben wir in den vielgestaltigen Kritiken an der herrschenden Zeitordnung eben genau jene Infragestellung ihrer Rechtfertigungsgründe, etwa indem sie als grundsätzlich entfremdend und gegen die menschliche Natur gerichtet angeprangert wird.5 In unterschiedlichen Epochen und Gesellschaftsformationen werden für die Rechtfertigung von Zeitordnungen somit epochentypische Rechtfertigungsgründe herangezogen. Konstitutiv für Rechtfertigungsordnungen sind nach Forst „Rechtfertigungsnarrative, die in historischen Situationen entstehen und über längere Zeiträume tradiert und modifiziert werden.“6 Sie seien eine Form verkörperter Rationalität, in der sich Bilder, Rituale, Fakten sowie Mythen zu wirkmächtigen Gesamterzählungen verdichten würden, die dann als „Ressource der Ordnungssinngebung“ fungieren würden. Solche Narrative könnten religiöser Natur sein, aber auch auf politische Errungenschaften, Revolutionen oder Siege, aber auch Erzählungen über epochale Niederlagen eines Volkes oder einer sozialen Gruppierung beruhen.
3 Wer macht die Zeit? Strukturwandel der Zeitstrukturierung
Zeitordnungen umfassen nicht nur Kalender als Instrumente der Strukturierung der Rahmen-Zeiten der jeweiligen Gesellschaften, sondern – je nachdem, in welchem Umfang die Durchdringung einer Gesellschaft mit zeitlichen Regeln in immer mehr Teilsystemen voranschreitet –, darüber hinaus bedeuten sie einen Gesamt-Prozess der „Verzeitlichung der Gesellschaft“7: In der modernen Gesellschaft finden sich dann fast alle Dinge, die existieren – jedes menschliche Verhältnis, jeder wirtschaftliche Vorgang, jede technische Entwicklung, Kunst, Kultur und Religion –, direkt oder indirekt in einer Relation zum Faktor Zeit wieder. Nicht zuletzt betrifft das auch die Entdeckung eines bis zur Aufklärung weithin unbekannten sozialen Konstrukts von „geschichtlicher Zeit“8. So lassen sich auch die uns auf den ersten Blick als Naturkonstante erscheinenden Fernorientierungsmuster „Vergangenheit“, „Gegenwart“ und „Zukunft“ als an Epochen gebundene Kreationen des menschlichen Geistes beschreiben.9
Soweit man sehen kann, lassen sich drei, in historischer Abfolge auftretende, Strukturierungsmodi gesellschaftlicher Zeitordnungen unterscheiden. Deren gemeinsames Merkmal besteht darin, dass sie bezeichnen, in welcher Art und Weise und auf Basis welcher gesellschaftlichen Umstände bzw. Rechtfertigungsordnungen Zeitstrukturierung in einer jeweiligen historischen Epoche erfolgt und wer oder was – epochenspezifisch – das Subjekt, der entscheidende Akteur dieses Vorganges ist.
3.1 Drei Strukturierungsmodi
Es lassen sich unterscheiden:
– der autoritäre Strukturierungsmodus
– der marktlich-technologisch-administrative Strukturierungsmodus
– der nachmodern-subjektbezogene Strukturierungsmodus
Beim Auftreten eines historisch neuen Zeitstrukturierungsmodus verschwindet der zuvor dominante Zeitmodus nicht; vielmehr bleiben die frühen Modi in mehr oder weniger ausgeprägter Form in den späteren weiter bestehen. Jedoch nimmt ihre Bedeutung gegenüber dem/den jeweils jüngeren Strukturierungsmodus/i ab und bleibt als historisches Relikt auf eher marginale gesellschaftliche Teilsysteme beschränkt.
3.1.1 Der autoritäre Strukturierungsmodus
Mit diesem ist die Entstehung einer Zeitordnung durch Erlass eines dazu autorisierten politischen oder/und religiösen, mehr oder weniger totalen Herrschers gemeint, aber auch durch das gegebenenfalls personenunabhängige Wirken autoritär-hierarchisch verfasster religiöser Institutionen. Der autoritäre Strukturierungsmodus umfasst die weitaus längste Phase in der Geschichte der Menschheit bzw. ihrer sozial-kulturellen Entwicklung. Sie reicht von den chinesischen Dynastien über die ägyptischen Herrscher bis in die griechische und römische Antike,10 sie umfasst europäische Kaiser und die Hochzeit der katholischen Kirche im mittelalterlichen Europa, ebenso etwa die Mayakultur11 auf dem amerikanischen Kontinent. Immerhin ist auch der noch heute gültige Gregorianische Kalender (nach ISO 8601) in seinem Ursprung das Resultat herrschaftlicher Verfügung, nämlich einer Bulle Papst Gregors des XIII. aus dem Jahr 1582. Wobei allerdings erst im Jahr 1700 die protestantischen Staaten Deutschlands diesen übernahmen, um sich dem päpstlichen Machtanspruch eines „Universalkalenders“ nicht unterordnen zu müssen.12 Ebenso lässt sich die im deutschen Verfassungsrecht festgeschriebene Sonntagsruhe bis auf einen Erlass des römischen Kaisers Konstantin zurückverfolgen.13 Inwiefern jedoch die beiden neuzeitlichen Versuche, in Abgrenzung zum alten Regime neue Kalender zu etablieren, wie der auf einem Zehnersystem beruhende französische Revolutionskalender oder jener der Oktoberrevolution in Russland14 als entweder autoritär verfügt oder im Gegenteil als besonders dem Volkswillen entsprechend gewertet werden können, kann hier nicht geklärt werden.
Obwohl es bei Kalendern stets um Machtdemonstrationen geht, indem darin das Alte als überwunden dargestellt wird, etwa gegenüber der verhassten Siebener-Symbolik der christlichen Tradition,15 darf man sich die Entstehung von Kalendern bzw. neuen Zeitordnungen nicht als aus dem Nichts geschöpfte Kreationen vorstellen.16 Zumeist setzen sie auf bereits Vorhandenem auf und modifizieren dies. Das gilt gleichermaßen für religiös begründete Zeitordnungen: So entstand der christliche Sonntag in Abgrenzung zum jüdischen Sabbat,17 übernahm jedoch mehr oder weniger explizit das Ruhegebot aus dem Alten Testament,18 während der islamische Freitag, der wiederum in Abgrenzung zu beiden entstand, zwar dem Sieben-Tage-Rhythmus folgt, jedoch kein Arbeitsverbot СКАЧАТЬ