Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen
Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075831040
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»Du!« rüttelte sie um Antwort.
»Ich bin ja immer d'rheeme«, entgegnete er endlich gleichgültig.
»Ach nee, ich denk', du läßt dich gar nich mehr bei deiner Mutter sehn.«
»Ebens deswegen bin ich immer d'rheeme.«
»Schuster, was redst du denn eig'ntlich!«
Er erhob sich, trat entfernt vor sie hin, damit sie ihn betrachte, und sagte dann:
»Nu, da bin ich d'rheeme, wo ich auch bin.«
Sein Rock war zerrissen. Ein zerknüllter Hut saß auf staubgrauem Haar, das über den Kragen herabhing.
Als er jetzt Maries Augen auf sich fühlte, ward er unsicher und ordnete sich die Halsbinde, die ein buntes Taschentuch war, und lachte wieder.
»Warum hast du denn vorhin gelacht?« fragte Marie, weil ihr vor Mitleid nichts anderes einfiel.
Klose trat hinzu, hob die Bürde auf die Bank, legte sie zwischen das junge Weib und sich und nahm am anderen Ende mit den Worten Platz:
»Wenn d'rs nischt verschlägt und du bist nicht böse, da setz' ich mich a weng.«
»Warum, ja, ja, immer setz dich, aber was ich fragen will, warum läßt du denn den Packs nich liegen?«
Der Trinker starrte lange auf die Erde und sagte dann: »Heiliges Mädla – heiliges Mädla«, sah sie an, fuhr mit dem Kopf wieder herunter und wiederholte noch einmal »heiliges Mädla«.
Danach richtete er sich auf und antwortete:
»Kleen is groß und groß kleen. Ein gutes Herze hat keen Kopp; aber 's steckt doch schon in dei'm Auge! Ja, ja! – 's is zum Lachen! Nahmen wr an, 's reg'nt, oder dr Wind geht, oder ein Feuer kommt übers Haus, in a Busch, cetera pee.
Nich wahr? – Gut. Du kniest hin und hebst die Hände ei die Höh'. Nach? Hahaha!«
Er sah sie überlegen an, stand auf, trat hin und her und setzte sich endlich wieder. Mit einer wegwerfenden Handbewegung begann er von neuem:
»Hahaha! Haben wir alls gemacht, noch mehr! Gleichsam mit'm Geneipe mittendruf zu: Gesungen, geschlagen, ausgefrorn, gehungert, bis de Haare a so viel wußten wie dr Kopp, hahaha! aber nich locker gelassen, immer druf, immer druf, mittenrein ...«
Kopfschüttelnd brach er ab und griff mit den mageren Fingern verzweifelt ineinander und vollendete dumpf:
»'s reg'nt weiter ... 's reg'nt weiter ... deswegen heeßt's wohl auch: dr Teufel is manchmal ein Ziegenbock! Je mehr dich wehrst, je mehr a stößt. Laßt mich zufriede!«
Er spuckte aus, stützte sich auf die Knie und starrte zu Boden, als sei er ganz einsam.
»Aber Guste, dr Herrgott, denk' och! ...«
Klose rührte sich nicht; er sah aus, als sei er zu einem Ballen Verschrumpft. Die Arme herabhängend, handverschlungen, zwischen die Knie geklemmt; der Kopf in die Achseln gedrückt; der Rücken gekrümmt, wie ein krankhafter Auswuchs. Lange hörte Marie nichts als den keuchenden Atem, der Verwachsenen eigen ist.
Dann kamen Worte, stier, als rühre ein dürres Stäbchen im Leeren.
Er schien sie wieder ganz vergessen zu haben und nur mit seinem Schicksal zu reden, zog sich unter widerwilligen Lauten auseinander, saß eine Weile in steifer Starrheit und begann dann dumpf auf seine Fußspitzen zu reden, die er auf und nieder wippen ließ:
»Aber 's is noch nich gut ... nee, nee! ich spür's... es läßt nich locker ...«
Gramvoll richtete er sein Auge zum Himmel und redete Gott selber an:
»Das is a Müller! Eh' nich 's letzte Stäubla raus is, läßt der nich locker. Siehst du, wer ich eigentlich bin?«
Mit dieser Frage wandte er sich plötzlich wieder an Marie.
Dem jungen Weibe traten die Tranen in die Augen, da sie in dies gepeinigte erdfahle Antlitz sah, und sie brachte kein Wort hervor.
»Marie! Siehst du's nich?«
Seine Stimme zitterte in Angst.
»Ein guter Mensch bist du ...«, antwortete sie mitleidsvoll.
Über den Trinker kam eine tiefe Erregung, er stand auf und atmete, als sollte er ersticken, schickte sich an, zu entlaufen, sah sie verstört an, kam zurück und sank stöhnend auf seinen Platz nieder.
Das junge Weib glaubte, Klose sei plötzlich wahnsinnig geworden, wagte aber nicht, sich zu entfernen, weil sie fürchtete, daß er sie dann anfallen und ihr ein Leids antun könne.
»Gell, er stößt dich, daß de hinschlägst?« stotterte der Unglückliche vor sich nieder.
Marie aber fühlte, daß er sie frage.
»Er treib' dich nachts aus'm Bette, schmeißt dir's Essen of a Hals?«
Marie zuckte mit keiner Wimper.
»Alls weeß ich, alles!« endete der Schuster, als er aufgesehen und keine Zustimmung in Maries Gesicht wahrgenommen hatte.
»Haha, und da willst du sprechen, ich war' ein guter Mensch! Heil'ges Madla... aber laß gut sein, es mag gehn, a so lange es geht, a mal kommt's über mich ganz, ganz, und ich Hab' eene starke Hand und lösch' alles aus ...«
Seine Stimme war voll geworden, ein singendes, junges, süchtiges Schweben. Er hatte die Hände ineinandergeschlungen und nickte leise vor sich hin.
Marie erkannte, daß er wieder bei Besinnung sei, erhob sich geräuschlos und nahm die Bürde auf den Rücken.
»Behüt' dich Gott«, sagte sie, »und wenn du nich weeßt, wohin, unse Haus is hinterm Busch«, und ging davon.
Der Schuster regte sich nicht. Erst als sie schon weit fort war, erhob er sein Auge und sah ihr lange sinnend nach.
Das stille Licht des Herbstes rann über sein Antlitz, und es war, als lächelte er in seliger Gewißheit.
14
Sechs Wochen waren vergangen, die Kirmes von Alt-Walsdorf vorüber. Man befand sich im letzten Drittel des Oktober. Der Lahme hatte wieder einmal seinen guten Tag: er lehnte schon früh müßig am Brunnenhäuschen, nagte an der Unterlippe und kratzte mit dem Klumpfuß auf dem Bretterbelag. Es mochte gegen halb acht Uhr morgens sein, denn man hörte den Lärm der zur Schule gehenden Kinder von dem Kommunikationswege herüber und sich gegen den Erlengrund zu verlieren. Aus dem Walde stiegen Nebel und spannen sich in schwankenden Streifen zum Himmel auf, dessen schweres, einförmiges Gewölk sich immer mehr senkte, bis nur noch ein dünner Strich gelben Lichtes über der schwarzen Masse des Waldes lag. Bald war auch dieser spärliche Trost des Oktobertages verschwunden, und das Gewölk rann СКАЧАТЬ