Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr
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Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen

Автор: Hermann Stehr

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788075831040

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СКАЧАТЬ Beginn des Gottesdienstes, betete, ohne das Haupt zu erheben, und verließ entweder vor Beendigung der heiligen Handlung oder hinter dem letzten Gläubigen die Kirche, damit niemand sie anrede. Rief ihr jemand zu, so schrak sie sichtlich zusammen. Dann aber sah sie mit ihren blauen Augen auf, die noch größer geworden waren und einen krankhaften Glanz trugen. Sie blickte wie ans einer fremden Welt. Nie kam eine Klage über ihre Lippen, hartnäckig steuerte sie jedes Gespräch von bedeutsamen Dingen ab und sprach über Alltäglichkeiten mit einer ernsten, wie hinschwebenden Stimme, und obwohl ihre Worte fest und bestimmt klangen, so fühlte man ein Zittern darin wie die Bewegung trockner Grashälmchen.

      Aber wo sie ging und stand, rüttelte ihre Seele an dem Geschick des Lebens. »Warum hast du mich zu ihm getrieben? Willst du etwa, daß ich so leide?« fragte sie Gott in ihrem Herzen.

      Der Unbegreifliche antwortete mit neuen Qualen durch ihren Mann. Da schrie sie auf, jenen seelischen Schrei, in dem das Herz wie durchbohrt stockt und die Gedanken wie im Irrsinn wirbeln. Aber niemand hörte ihr Verzweifeln. Es wurde ihr nur dunkel vor den Augen, sie aß nicht, sie schlief nicht und arbeitete wie in Raserei. Dabei lächelte sie immerfort. Das war ihr Schrei.

      Als sie wieder zu sich kam, war das Antlitz Gottes verwandelt. Aus dem sicheren Manne ihres kindlichen Bekenntnisses war eine unbegreifliche, unermeßliche Macht, ein Meer geworden, auf dem ihr Leben wie ein losgelöstes Blatt umhertrieb. Da sah sie arg um sich und bemerkte, wie das Leben der andern, an unverrückbare Seile gekettet, dahinglitt. »Warum mir das, diese unendliche Not, nach deinem Befehle, Ewiger?« Und je länger sie auf ihr Schicksal schaute, auf dieses notwendige Verknoten wirr einhergehender Fäden, machte sich eine unfaßbare Sicherheit in ihr auf, eine Furcht, die in der letzten Tiefe eine Süße war. Sie glitt in die blühende Dämmerung einer mystischen Gottnahe, die aus jedem Zweifel eine neue Inbrunst gebar, aus jeder Lockerung eine festere Verknüpfung; jede Not ward die Verheißung einer Freude. So wuchs die Sicherheit in ihr, von der Vorstellbarkeit wie durch ein dunkles, bodenloses Wasser getrennt, in dem alle Konturen erlöschen, alle Farben sich auflösen. Manchmal war es, als tauche ein Gesicht aus den Abgründen in ihr auf. Aber wenn sich ihre Seele bückte, es zu deuten, zerfloß es, und sie ging wieder einher, doppelt bedrängt von dem Elend ihres Lebens und der dumpfen Schwermut der Schwangeren.

      Dann fühlte sie mehr als je sich jeden inneren Haltes bar und sah darin die gerechte Strafe dafür, in jener wilden Nacht der Vertreibung Gottes durch ihren Mann nicht mit dem ganzen Leben gegen die Untat gerungen zu haben. Mit dem Schatten dieser Stunde stieg das fratzenhafte Wahngebilde in ihrer Erinnerung auf, das in jener Nacht sie so gefoltert hatte. Es stand nicht deutlich vor ihr. Alle Gänge der Seele waren vielmehr mit seiner Verzerrtheit behaftet, schimmerten in dem blöden Lichte seiner Augen und hallten wider von den trägen, zähen Lauten seines unschönen Mundes, als sei es nicht mehr eine Bedrängnis von außen, als habe es die Wiege ihres Wesens verunreinigt.

      In dieser Zeit der Niedergetretenheit ward sie auch oft die Beute tierischer Sinnlichkeit. Jeder höhere Gedanke erlosch. Als habe sie Scham nie gekannt, drängte es sie unter Mißachtung der persönlichen Würde nach Genuß bis zum Ekel.

      Am Ende blühte jedoch immer wieder aus den schaurigen Gründen, erst scheu und zitternd, dann in heißer Sieghaftigkeit die Süße ihrer mystischen Gottverbundenheit.

      Um dies innere Glück einmal ungestört ganz auskosten zu können, wußte sie es mit unauffälliger Schlauheit dahin zu bringen, selbst das Brotgetreide zur Mühle tragen zu dürfen.

      Diese lag im nächsten Dorfe. Von den zwei Wegen, die dahin führten, wählte sie den längeren Fußsteig durch den Wald des Freirichters, an Steinmauern vorüber, über einsame Felder. Die schönen Tage schienen an die Erde festgebunden zu sein, der Sonnenschein spielte versunken um die bunten Büsche, die weißen Wolken lagen regungslos, daß sie wie ferne Gebirge aussahen, und fiel ein Blatt, so tanzte es so selig durch die goldene Luft, als habe es der Mund eines verborgenen Kindes vom Strauch geblasen.

      Marie ging hindann, den Kopf zur Seite geneigt, und als wieder einmal ein Blatt herabtaumelte, ward ihr Sehnen Gesicht, und ihr Kindchen erschien an der linken Seite, das niedliche Mädchen, blondhaarig und blaugeäugt, lächelte und hüpfte neben ihr hin, ohne den Boden zu berühren.

      »Gell och, du bist mei Kindla, mei's, mei Engelchen, mei's ganz alleene? Komm, komm du och! Ich weeß wohl, vo wem daß du bist: solche Guckala hat bloß dr Himmelvater«, flüsterte das junge Weib im Rausch hoher Freude.

      Nein, nicht sein Kind war es, Gott hatte es ihr geschenkt, als Lohn für die treue Ausführung seines Gebotes. Ihr Mann war doch nur ein Werkzeug in Gottes Hand gewesen, die auch aus Felsen Blumen hervorbringt. Das stand fest, seine Hand sollte die Zauber ihrer Hoffnungen nicht zerstören. Bei ihm, doch abseits wollte sie sich mit ihrem Kinde eine Welt bauen, wo ihr gedemütigtes Leben sicher, frei und glücklich werden sollte.

      Plötzliche Müdigkeit, siechendes Prickeln, das ihre Beine starr machte, trieb sie, einen Sitz zu suchen. Weil der Petzdorfer Bildstock nicht weit von ihr war, setzte sie sich nicht in den Graben, sondern schleppte sich vollends bis zu den zwei geköpften Linden, vor denen eine Lattenbank eingerammt war. Schwer atmend kam sie hin, ließ die Bürde zu Boden gleiten, setzte sich und senkte den Kopf, um die abgebrochene Gedankenreihe weiterzuspinnen.

      Da erinnerte sie sich, vor einem Heiligtume zu sein, drehte sich heftig um und sank vor dem Bilde in die Knie. Es war auf Leinwand gemalt und in einen schwarzen Rahmen gezwängt, der von zwei Eisenhaken an dem Stamme der einen Linde festgehalten wurde. Die dargestellte Szene war sehr einfach. In einer nur andeutungsweise gegebenen Landschaft, über der ein ultramarinblauer Himmel lag, kniete ein Bauer, die Hände im Gebet erhoben. Sein langschoßiger Rock war schwarz, sein Gesicht blaß. Dem unbekannten Maler war es gelungen, etwas von der dumpfen Bauernseele in seine Züge zu legen. Die Augen des Mannes richteten sich verzückt auf eine Muttergottes, die, links oben, im Himmel schwebte. Nicht weit von ihr, in gleicher Höhe mit der göttlichen Erscheinung hing ein Vogel in der Luft, den man für einen Hahn mit ausgerupftem Schwänze hätte halten müssen, wenn seine Raubfänge nicht gewesen waren. In diesen trug er ein schwarzes Etwas, aus dem eine Menge ockergelber Käschen fielen, deren erstes dicht über der Nase des bäuerlichen Beters angekommen war.

      Darunter stand die Erklärung:

      »Zu schwedischer Kriegszeit lebte ein Bauer, Georg Tiffe, welcher sein Vermögen, einige Dukaten, in einem hohlen Baume vergrub. Wie er sein Geld erheben will, war alles weg. Was tat er? Vor Angst fiel er auf seine Knie, gelobte der schmerzhaften Muttergottes, ihr Bildnis zu bekleiden, wo er sein Geld findet. Da er so betete, kam ein Rabe geflogen, brachte das Geld im Schnabel und ließ es bei dem Männlein fallen. Der Mann erhob das Geld und brachte den anderen Tag einen Dukaten dem Herrn Pfarrer, Hochwürden Wendelin Kasper zu Alt-Walsdorf, der dafür dies Bild stiftete. Alt-Walsdorf, den 2. März 1645. Geh, O Krist, nicht an diesem Bildt vorüber! Bete, Marie hat geholfen und wird auch dir helfen in allen Nöten.«

      Von ihrem Mutterglück ganz eingenommen, konnte sie zu keinem Gebet kommen. Als Ersatz betrachtete sie das bekannte Bild genauer als sonst und las die Erklärung dazu, langsam, Wort für Wort. Die Anrufung am Schluß sprach sie halblaut und fügte aus eigenem Herzen noch ein Stoßgebetlein hinzu: »Ach, du mei Gott eim Himmel, barmherzige Mutter ...«

      Trockenes Lachen, ganz in der Nähe, ließ sie abbrechen und erschreckt aufsehen.

      Schräg hinter der Bank saß ein Mann auf einem Stein, vom Gesträuch verborgen. Nun sie schwieg, bog er sich auch vor und schaute auf sie hin. »Klose?« sprach sie in sein verwildertes Gesicht und fühlte, wie sich ihr Herz in Erbarmung zusammenkrampfte.

      Der Schuster bewegte bestätigend den Kopf und rührte seine verschwimmenden Trinkeraugen nicht von ihr.

      »Ma sieht dich ja gar nich mehr, Guste?« fragte sie, setzte sich an das Ende der Lattenbank СКАЧАТЬ