Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen
Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075831040
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Aber er kannte diese »Hurenmenscher« und ließ sich von ihnen keine Komödie mehr vormachen. Er redete Marie nun ins Gewissen, wie er es bei Gefallenen gewohnt war. Er vergaß, daß er im Beichtstuhl sitze.
Der Kirchvater drängte die Ministranten in die Kirche. Bald erfüllte Langers Stimme die Sakristei. Er spie aus, nannte sie Dirne, verhieß ihr ein verfluchtes Leben, eine gepeinigte Ewigkeit und warf ihr endlich die Absolution verächtlich wie einen Brocken zu. Sie hing wie ohnmächtig mit ihren Händen an dem Gitter des Beichtstuhls und rührte sich auch nicht, als der Pfarrer mit lauten Schritten zur Messe in die Kirche hinausging. Nur beim Schall des Eingangsgeläuts zuckte sie zusammen.
Der Kirchvater hatte, der Gewohnheit gemäß, Langer bis an die Tür der Sakristei begleitet.
Dann kehrte er zurück und sah nach Marie. Die kniete jetzt in aufrechter Steifheit da und schaute unverwandt in den leeren Beichtstuhl.
Er hustete einigemal, um sie zum Verlassen der Sakristei zu bewegen.
Marie begann mit beiden Händen das Gitter abzutasten.
Voll Mitleid trat er hinzu und sagte liebreich:
»Mädla! Du, Mädla!«
Sie wandte ihm das Gesicht zu und blieb in der knienden Stellung, als habe sie ihn nicht verstanden.
»Komm och un gieh etze nei! Horch, de orgeln schon«, sprach er dringender.
Da erhob sich Marie, lehnte sich an die Mauer und starrte verstört den Greis an.
»Gell, er hat mich nicht losgesprochen?« fragte sie regungslos.
»Ach, freilich. Er begeht's bloß immer aso. Laß gut sein, 's hat auch noch een Herrgott, und der nimmt's verleicht nich aso nette. Komm och, Mädla, komm du!« Zitternd griff er an seine Haarschnecke und reichte ihr das Gebetbuch vom Boden herauf.
Wie gegen einen Berg schritt Marie in der Kirche hin auf ihren Platz zu; die Klänge der Orgel brausten um ihre Ohren gleich einem Toben, die Bankköpfe verschwanden immer mehr unter ihr, nun reichten sie ihr nur noch bis an die Knie. Mit hastigem Griff erhaschte sie einen und kam glücklich fallend auf einen Sitz.
Die Beter vor ihr fuhren herum und sahen sie mißbilligend an. Marie hatte keine Empfindung dafür. Eine tote Kapsel lag um ihr Herz, und alles Äußere war weit fort von ihr, ganz belanglos. Der Gesang schwoll an und erstarb, der Geistliche und die Ministranten drehten sich beim Kerzenschein zum Schall einer Klingel vor dem Altar maskenhaft hin und her, die roten Lichtpünktchen vor den Betern schienen die Bänke auf und nieder zu hüpfen, und wenn der Kantor vom Chore herabsang, dann verschwand aller Schein, und es war eine menschenlaute Nacht um sie, die mit der Gleichgültigkeit einer Verurteilten alles bemerkte und immerfort dachte: Der Pfarrer! der Pfarrer!, drohend und anklagend.
Auf den Schall der Glocke erhoben sich viele der Gläubigen vorsichtig in ihrer Bank und wanderten der Kommunionbank zu. Marie, noch immer zweifelnd, ob sie der Absolution teilhaftig geworden sei, stand gleichwohl auch auf, ergriff mit der Rechten das Gebetbuch wie einen wurffertigen Stein, und im Bewußtsein ihrer Reinheit war sie entschlossen, dem Priester den Leib des Herrn, wenn es nicht anders sein konnte, mit Gewalt zu entreißen. Gefaßt, mit fest geschlossenem Munde, trat sie an den Tisch des Herrn und neigte ihren Kopf über das weiße Linnen, das Gebetbuch krampfhaft mit den Händen umklammernd. Der Geistliche näherte sich ihr langsam von der rechten Seite.
»Corpus Domini nostri Jesu Christi custodiat animam tuam in vitam aeternam, Amen«, murmelte er und legte die Hostie in den Mund der Kommunikanten, die sofort nach Empfang des Geheimnisses den Kopf tief auf die Bank neigten.
Das Herz pochte ihr zum Zerspringen.
»Herr Gott erbarme dich meiner!« flehte sie in einem fort.
Nun war Langer bei ihr.
Unnatürlich weit reckte sie den Hals auf und streckte wie lechzend ihre Zunge aus.
Die Augen glommen in starrem Glanz. Ihr Gesicht war scharf und verlangend wie das eines Hungrigen. Der Geistliche dämpfte seine Stimme, wie um den Segen der Worte abzuschwächen, und reichte ihr die Hostie.
Sofort schloß Marie den Mund über der heiligen Speise. Kaum verneigte sie sich. Die Zähne aufeinandergepreßt, ohne zu atmen, eilte sie auf ihren Platz zurück und vergrub das Gesicht in die Hände.
Die Hostie klebte an ihrem Gaumen fest, sie schien anzuschwellen, und je heftiger sie schlang, desto mehr verengerte sich der Hals.
Marie erinnerte sich an den Sünder, der, an dem Leib des Herrn erstickt, wie von einem unsichtbaren Streiche gefällt, hingeschlagen war.
»Lieber, lieber Herr Jesus«, betete sie und stieß endlich in Verzweiflung die Hostie mit dem Finger hinunter.
Nach wenigen Augenblicken ergoß sich Wärme in ihren Leib. Die Seele ward schimmernd, wie perlendes Licht floß das Blut in ihren Adern, ihr Herz sang. Die Augen geschlossen, die Wangen glühend in Verzückung, lag sie da und genoß das Wunder der Menschwerdung Gottes in ihrem Körper.
Lange schon schwieg die Orgel. Die Kirche war leer geworden. Nur in einer verborgenen Ecke hockte ein altes Weiblein und buchstabierte halblaut aus ihrem Gebetbuch.
Marie war es, als gingen, leise streichend, lange Gewänder weit, weit über ihr hin, und obwohl sie die Augen bedeckt hielt, sah sie alles.
Die Heiligen traten aus dem Rahmen und wandelten durch die Gänge, ihre langen Locken hoben sich bei jedem Schritt.
Plötzlich ward es ganz, ganz still. Über die Leiber der Heiligen in den Gängen kam ein Bann, und alle standen starr. Alle blassen Stirnen kehrten sich horchend in die Höhe. Und ferneher, aus unendlichen Regionen kam ein Raunen und ward immer deutlicher.
Der Herr naht. –
Wie von zögernden Winden getragen, hörte sie seine Stimme. Sie war alt und halb erloschen von den Jahrtausenden.
»Gehe hin und folge ihm nach«, sprach es über sie hin.
Sie ward wie gelähmt von diesen Worten. Ein Brausen entstand vor ihren Ohren und verlor sich in den Höhen. –
Als sie endlich ihr Gesicht zu erheben wagte, lag das graue Licht des Morgens in den Wölbungen der Kirche. Es war leer und dumpf wie immer. An nichts erkannte sie, daß der Herr durch diesen Raum gegangen sei.
Der heilige Johannes schrieb eifrig in sein Buch und lächelte dazu, während ein schwarzer Vogel zu seinen Füßen die Augen verdrehte. Dieser Heilige hatte die Hände über dem Unterleib gefaltet und machte ein trauriges Gesicht, als quäle ihn dort etwas; jener suchte mit Inbrunst jemand in der Ferne und spitzte den Mund, als pfeife er.
Trostlos rang sie noch eine Weile im Gebete gegen ihre unheiligen Augen und machte sich dann betrübt auf den Heimweg.
Am Nachmittag gab sie, wie Gott es ihr befohlen, dem Klumpen das Jawort.
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