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und suchte die Stelle, wo ich mich unterbrochen hatte. Aber es lag doch nicht mehr der alte Frieden der Langeweile über uns unfreiwillig Gefangenen. Der kleine Raufhandel hatte alle reizbar gestimmt. Am Ofen ertönte bald der schrille Protest Kristens, dem ein Bauer seines Gegners die Königin geraubt hatte, und trotz des demütigen, wortreichen Zuspruches des kleinen Mach erklärte der Geschädigte diese Handlungsweise hartnäckig für eine rohe Gemeinheit, ohne indes etwas anderes, als erneute langatmige Erklärungen zu erzielen. Endlich strich er ärgerlich die Figuren vom Brett und beide setzten sich, wenn auch nicht feindselig, so doch verbittert, an den Tisch. Es war nun ganz still in der Stube. Das Gespräch der drei Großen hatte sich erschöpft, und außer den Regenschnüren, die gegen die Fenster peitschten, rührte sich nichts, was dieses gallige Lasten, dies mißmutige Gespanntsein abgeleitet hätte. Da löste sich Kaliske von der Gruppe am Fenster und begann, immer vor dem Tisch hin und her, einen Spaziergang in der Stube. Es war ein bunter, verwickelter Mensch, mit einem sehnigen, unruhigen Gesicht, das älter aussah als seine siebzehn Jahre. An der rechten Seite seiner großen geknickten Nase saß, gleich einem erbsengroßen, haarigen Käfer, eine Warze, und um die hohe Stirn blühte wie ein goldiger Schein eine Fülle krausen, rotblonden Haares. Nach einigen Pendelgängen begann er in einer selbsterfundenen Sprache einen komischen Monolog, der sich immer mehr entzündete und zuletzt nur eine leidenschaftliche Jagd von Fratzen war. In solchen Augenblicken befand sich Kaliske in einer vierten Dimension, in einer Art Rausch, und keiner von den jüngeren Schülern wagte zu lachen, weil der Redner dann augenblicklich in Wut verfiel und mit Ohrfeigen um sich warf. Mich aber juckte an diesem Tage der Übermut, und ich lachte bei einer seiner irrsinnigen Kapriolen laut heraus. Sogleich sprang er auf mich zu und herrschte mich, die rechte Hand streckend, an: »Larikassimatutu!« Das hieß: Wenn du nicht gleich den Mund hältst, hau' ich dir eine runter! Sein Gesicht war zornrot. Aber ich ließ mich nicht schrecken, schnellte zu meiner ganzen Größe auf, daß ich ihn um Handbreite überragte und erwiderte: »Versuch's nur!« Der Traumzustand wich sofort von ihm, und er wandte sich verblüfft zu Brandt hin, der von seinem Bettrand aus dem Vorgang mit philosophischer Gelassenheit zuschaute. Er war einer der gefürchtetsten Keiler, und um mich Renitenten in die gebührenden Schranken zurückzuweisen, sagte er ruhig: »Mach' dich nicht mausig, sonst kriegst du's mit mir zu tun!« Aber zum Erstaunen aller senkte ich auch jetzt noch nicht die Fahne der Empörung, sondern erwiderte: »Das ist mir egal!« Sogleich erhob er sich mit höhnischem Auflachen, zog Kaliske zurück und fragte wegwerfend, ob ich etwa Lust hätte, mit ihm zu boxen. Dabei bohrte er seine blauen, nichtssagenden Augen in die meinen und schnellte die rechte Faust schlagend in die Luft. Weil mir nichts übrig blieb als schmachvolle Unterwerfung oder rühmlicher Untergang, so wählte ich den Kampf. »Natürlich bis zur Erschlaffung,« sagte er dumpf, »Pardon gebe ich nicht.« »Ganz wie du willst«, antwortete ich. Rieder, ein sanftmütiger Bursche, hatte den Handel bis hierher gehen lassen, nun übernahm er die Vermittlung, um den Streit aus der Welt zu schaffen. Als Stubenältester war er verantwortlich für den Frieden und die Ordnung in unserer Bude. Aber weil Brandt erklärte, mich nur schonen zu wollen, wenn ich mir von Kaliske eine »herunterlatschen« lasse, mußte ich fest bleiben, obwohl Schick, Kristen und Mach in Angst auf mich eindrangen, doch nachzugeben. Die Beschwichtigungsversuche waren also fehlgeschlagen. Rieder ließ sich von allen das Ehrenwort geben, nichts zu verraten, und verriegelte die Tür. Schick, Kristen und Mach rückten entsetzt am Tisch zusammen. Kaliske nahm seine Geige aus dem Kasten, setzte sich auf einen Holzkoffer in der Ecke und fuhr sich nervös mit dem Zeigefinger über die haarige Warze. Brandt ergriff die Zahnbürste und rieb, um sich zu wilder Tapferkeit anzustacheln, seine Zähne mit Kochsalz, daß der ganze Mund blutete. Dann holte er Asche aus dem Ofen, füllte sich damit die Mundhöhle und spülte sie danach mit Wasser aus. Es bot einen barbarischen Anblick, wie er so einen Strahl Schmutz und Blut in den Eimer spie und hatte wohl den Zweck, mich furchtsam zu machen. Kaliske ergriff jetzt seine Geige, neigte das erblaßte Gesicht tief darauf und schloß die Augen. Der Bogen fuhr ein paarmal wie taumelnd durch die Luft, dann spielte er sich sacht auf die Saiten. Ein Geflecht schneidend feiner Singtöne, wie es Mückenschwärme im Sommerlicht uns um den Kopf weben und dadurch das Kochen der stehenden Glut vermehren, zitterte er aus dem Holz heraus und erfüllte damit die Stube. Ich ward von dem summenden Singen wie benebelt, unerträgliches Unbehagen erfüllte mich, und ich hätte mich schreiend auf Brandt stürzen müssen, wenn er nicht schon mit einer Grimasse des Lächelns, die Zähne breit und weiß, auf mich zugetreten wäre. Ich entblößte schnell auch den linken Arm bis hinauf zur Achsel und verschränkte ihn mit dem linken Arm meines Gegners so, daß die Muskeln des Oberarmes sich bequem den Schlägen darboten. Nun ich das warme, zuckende Fleisch Brandts an dem meinen spürte, flog einen Moment ein Rausch durch mein Hirn. Aber ich biß die Zähne zusammen und packte, um mich zu halten, mit finsterem Auge in das Gesicht Brandts, das noch immer automatenhaft lächelte. Plötzlich tauchte ich ganz ins Klare, Kalte. Der kleine Mach lag mit dem Gesicht auf der Tischplatte, Kristen und Schick starrten offenen Mundes auf uns. Auch Kaliske mußte aufgeblickt haben, denn seine Geige stieß einen langen, schrillen Schrei aus und stürzte sich nach einem Stakkatolauf in den Taumel eines rasenden Tanzes. Da gab's kein Halten mehr! Noch ehe Rieder das Zeichen zum Anfang geben konnte, hieb ich meine scharfen Knöchel in die Muskeln meines Gegners und erhielt darauf einen Schlag, der wie ein schwaches Klirren mir den Rücken hinunterlief. Bald waren wir im Takt. Eins, zwei! Eins, zwei! Unsere Arme röteten sich immer tiefer. Die Schläge lagen eine Weile wie weiße Flecken in der Haut. Nun schoß mir von jedem Hieb ein Reißen und Bersten durch die Muskeln. Aber: Eins, zwei! Eins, zwei! Die Geige jauchzte wie toll. Meine Faust war nur noch ein Stein am Arm, der immer größer, schwerer und wuchtiger wurde. Ich hatte jedes Gefühl verloren. Die Schläge Brandts wirkten nur als dumpfe Erschütterungen. Bis auf eine Empfindung, als umspanne ein Griff schmerzend meinen Hinterkopf, war ich ruhig. Aber da erhielt ich einen Hieb zwischen den Oberarmmuskel und den Beuger, wie einen Messerschnitt in den Knochen und warf meinen Fauststein mit Wut auf dieselbe Stelle Brandts. Davon zitterte Blässe über sein Gesicht. Noch einen Schlag! Seine Augäpfel wankten, noch einen! Der Griff umklammerte meinen Hinterkopf schmerzender. Aber: Eins, zwei! Eins – zwei! Ich sah, wie Rieder auf- und abschwankte. Die Nase Brandts wurde lang wie ein Schnabel, als laufe sie aus dem Gesicht. Da riß man uns auseinander. Mach lag mit vergrabenem Gesicht weinend auf dem Tisch. Schick und Kristen standen am Fenster und wagten nicht, sich umzudrehen. Kaliske hielt die Geige immer noch krampfhaft unter das Kinn gestoßen; aber der Arm mit dem Bogen hing schlaff herunter, und die weiten Augen standen wie abwesend im blassen Gesicht. Brandt ging ruhig, als sei nichts geschehen, zu seinem Bett und streifte sich den Hemdärmel herab. Ich goß mir Wasser ins Becken und kühlte meinen Arm, der zu schmerzen anfing. Schon sah er blau aus, und das Blut war aus den geborstenen Gefäßen unter der Haut bis in die Hand gespritzt. Niemand wagte zu sprechen. In der Luft lag der Atem einer denkwürdigen Tat. Rieder bemühte sich um mich, und ich wehrte, nur zum Scheine, diese Ehre ab. Bald aber ward meinem Stolze hart zugesetzt, und weil ich bemerkte, daß auch Brandt großer Erschöpfung nicht mehr recht Herr werden konnte, ließ ich einem ziemlich kläglichen Gefühl immer größeren Spielraum in mir. Aber, den Arm hochgelagert, hielten wir tapfer bis nach dem Abendbrot aus. Wir genossen es mit einer Hand und krochen dann beide ins Bett.
Den ganzen anderen Tag brachte ich unter der Decke zu. Die linke Körperseite war angeschwollen, und der Arm schwarz wie ein Ast der Erle. Unsere Wirtin witterte wohl etwas von einem unbotmäßigen Ereignis; aber sie mußte sich damit beruhigen, daß ich an Magenkrampf und Brandt an Kopfweh leide. Mit heiterer Würde trank ich mehrere Tassen eines abscheulichen Tees, während sich Brandt trotz grämlichen Protestes ein dickes Tuch um den Kopf winden lassen mußte, überhaupt lag er blaß, stumm, zerrieben auf seiner rechten Seite und fuhr fast den ganzen Tag mit dem Zeigefinger um einen Ast im Sitzbrett des Stuhles. Er machte den Eindruck eines Menschen, dem seine Weltanschauung zertrümmert worden ist, eines Philosophen ohne System, eines entthronten Fürsten, und wenn er je seine Augen zu mir erhob, so war es, als spucke er vor mir aus. Kaliske würdigte mich keines Blickes, sondern saß den ganzen Tag an Brandts Bett und goß ein dünnes, unruhiges Gelispel in das bleiche Gesicht des Stoikers. Mich erfüllte ein sicheres Behagen, und ich mußte an mir halten, nicht breit und dröhnend herauszulachen. So verging der Sonntag, Zeit genug, daß die ehrgebundenen Lippen unabsichtlich dies und das von dem denkwürdigen Kampfe verlieren konnten.
Als ich Montags in der Präparandie erschien, wurde ich wie
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