Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen
Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075831040
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Schon in den Abendstudien explodierte die ganze Anstalt wie ein Pulverfaß; in allen dunklen Ecken ballten sich Rotten von Verschwörern zusammen. In der zweiten Nacht wurden dem Pfarrer die Fenster eingeworfen. Dann duckte sich die allgemeine Rachsucht so unvermittelt und kläglich, wie blind und bramarbasierend sie aufgejächt war, und hatte mich der gespreizte Lärm der Revolte unangenehm berührt, so schämte ich mich nun für all die Feigen, die beim Heraufziehen der Vergeltung sich so klein und schleimfromm wie nur irgend möglich machten. Niemand wollte die Steine geworfen haben, und ich ärgerte mich fast, nicht an dem Glase des Pfarrhauses gesündigt zu haben, denn dann hätte ich ihnen doch zeigen können, wie ein Mann handeln muß. Aber schon bald bot sich mir Gelegenheit, meine Festigkeit auf die Probe zu stellen. Auf irgendeine Weise fraß sich der Verdacht bis zu den Ohren unseres guten Herrn Malchow, der nächtliche Kanonier der Pfarrwohnung stecke unter seinen Schülern, und war der sanfte Mann seit Hirzels Tode mit umwölkter Stirn umhergegangen, so verlor er bei dieser Nachricht etwas die Haltung eines liebreichen Menschen und leitete, von dem Ordnungsathleten Bleyer, dem zweiten Lehrer, angestachelt, eine gewaltsame Inquisition ein.
Eine bleiche Furcht kroch durch alle Bankreihen, als eines Vormittags plötzlich das Schnurren des unterrichtlichen Kreisels abbrach und einer um den anderen zu scharfem Verhör in das Konferenzzimmer geschmettert wurde. Freilich beschränkte sich die Untersuchung nur auf Räudel, ganz Fromme und solche, die sich markant von der Masse abhoben. Doch schon, nachdem die ersten drei, unter ihnen Kapitän Gläsner, aus dem Feuer zurückgekehrt waren, erkannte man, daß die »Schuster« auch Witterung von der ewigen Brüderschaft bekommen hatten, und der geheimnisvolle Handdruck wanderte als Versprechen unzerbrechlichen Schweigens unter den Bänken durch die Klasse. Da schnarrte Bleyer auch mich vor den grünen Tisch. Herr Malchow saß vor einem großen Bogen Papiers und sah mit kummervoller Liebe auf mich. Bleyer trat eine Wanderung durch die Stube an und schlug mit den Hacken vor Zorn laut auf, weil seinem Chef schon so bald der scharfe Schneid abhanden gekommen war.
»Du hast einen Haß auf den Hochwürdigen Herrn Pfarrer?« fragte Malchow.
»Nein«, antwortete ich.
»Was, du unterstehst dich, zu lügen?« fuhr mich Bleyer an.
»Ich sage die Wahrheit«, antwortete ich ruhig. Herr Malchow nickte mir zu und fuhr weiter fort: »Aber, du hast ihm doch vor drei Tagen den Gruß verweigert.«
»Ja, das habe ich getan«, bekannte ich. »Aber ...« Kaum hatte ich »aber« gesagt, so sauste Bleyer wie ein Geschoß auf mich ein. »So? Aber! Allerliebst! Du willst noch ›aber‹ sagen, Bürschchen? Herr Dirigent, er hat sich einer Lüge schuldig gemacht. Denn aus Liebe und Hochachtung unterläßt niemand den Gruß. Eine riesige Rüdigkeit! Eine riesige Rüpelhaftigkeit!« Er gurrte das häufige »r« aus dem Bauche, der Gegend des untersten Westenknopfes und schnappte kriegerisch mit dem Finger.
Malchow sah unter den Tisch. Als der Wütende fertig war, hob er seine Augen und sagte: »Nun, was wolltest du sagen, Faber?«
Der Scharfmacher stand einen Augenblick sprachlos da. Dann verließ er mit langen Schritten das Zimmer.
Als Malchow sich allein sah, ward ihm wohler. Er stand auf und fuhr sich übers Gesicht. Darauf trat er liebreich zu mir, und ich bekannte, daß ich beim Auftauchen des Pfarrers an eine Demütigung erinnert worden sei, die mir einst Herr Zimbal angetan habe. Aus einem Zorn, der mich überrumpelt, habe ich dem Herrn den Gruß nicht geboten. Im übrigen gestand ich, der Meinung zu sein, Pfarrer Nitsche habe Hirzel in den Tod getrieben.
Herr Malchow verharrte schwermütig und wortlos eine Weile am Tisch, dann verwies er mir den freventlichen Argwohn, fragte mich, ob mir etwas von einem Geheimbund bekannt sei, und weil ich dazu die größten, erstauntesten Augen der Welt machte, wurde er sehr vergnügt. – Daß ich an der Fensterwerferei nicht beteiligt sei, stehe für ihn ohne weiteres fest.
»Nja, du liebe Jugend,« sagte er dann mit gütigem Verweisen, »husch, husch! Nja! Siehst du, ein Mann, du willst doch ein Mann werden, der muß sehen, sinnen und dann erst sagen. Und will das Pferdl wieder mal mit dir durchgehen, denk' an die drei ›S‹ und an deinen Dirigenten, der dich eigentlich entgegen höherer Weisung aufgenommen hat.«
Das verletzte meinen Stolz. »Habe ich die Prüfung nicht bestanden, Herr Dirigent?« fragte ich erregt.
»Nja, alles,« antwortete er, »sehr gut sogar! Auch jetzt bin ich mit dir zufrieden, wenn auch manchmal zu viel hartes Holz an dir ist. Allein ich weiß, du wirst mal ein tüchtiger Lehrer werden, und damit du siehst, wie gut ich es mit dir meine, sollst du wissen, daß der hochwürdige Herr Pfarrer Zimbal mich gewarnt hat, dich aufzunehmen, denn deine Führung hat wohl früher viel zu wünschen übrig gelassen.«
In seiner Freude, mich nicht strafen zu müssen, schwatzte er heraus, was er gewiß nie sagen wollte und sah nicht, welchen Eindruck es auf mich machte. Die tiefgeheimen Wunden rissen in mir auf, eisiger Schmerz, ein Lächeln qualvoller Genugtuung erfüllte mich. Wie betäubt schlich ich davon.
Draußen umringten mich die Mitschüler mit besorgten Mienen. Nur der blonde, fromme Denunziant kauerte blaß auf seinem Platz. Sie hatten den wilden Bleyer herauskommen sehen und glaubten, ich sei entlassen.
Als ich in derselben Nacht lag und über mich in das Finstere sah, während die anderen schliefen, fiel mir der Gedanke ein, der mir beim Anblick des Ochsengefährtes gekommen war, und ohne Skrupel setzte ich daran, daß es mit den Geistlichen wohl ähnlich sein müßte. Sie dienen der Kirche – ich verstand damals darunter das einsame Gottesgebäude und den stets verschlossenen Pfarrhof – so kommt's eben, daß sie anders werden wie die übrigen. Aber was mir der Pfarrer Zimbal angetan hatte, war doch Sünde! Nun, dann sündigen sie eben. Da lebte ja vor Jahren in meiner Vaterstadt СКАЧАТЬ