Название: Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel
Автор: Luzia Pfyl
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Frost & Payne - Die gesamte Staffel
isbn: 9783958344112
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Frost und Michael schauten gleichzeitig auf. Helen stand etwas schüchtern im Türeingang und zog soeben ihren Mantel an. »Kann ich noch etwas tun, Miss? Ich würde sonst nach Hause gehen.«
»Nein, alles bestens. Danke, Helen. Geh nach Hause, bevor wir noch eingeschneit werden. Bis morgen dann?«
Helen nickte. Frost lächelte und schaute ihr hinterher, als sie die Agentur verließ und im Schneegestöber hinter dem Schaufenster verschwand.
Sie würde es nicht übers Herz bringen, sie zu entlassen, weil sie sich keine Haushälterin mehr leisten konnte. Helen konnte nichts dafür, dass sie die Agentur nicht auf die Reihe brachte.
Frost starrte die Karte an und seufzte dann. »Na schön, ich mach es. Aber nur dieses eine Mal. Richte das Madame Yueh aus.
3.
Als Michael gegangen war, legte sich Stille über Frosts Büro. Nur das regelmäßige Schlagen der Pendeluhr in der Ecke und das Rattern der Straßenbahn draußen vor dem Schaufenster waren zu hören.
Frost rieb sich die Nasenwurzel. Sie bekam Kopfschmerzen. Sie hatte kein gutes Gefühl bei dem Auftrag, auch wenn es lukrativ für sie war und sie die Agentur behalten konnte.
Sie musste das Orakel befragen. Frost stand auf, ging zum hintersten Bücherregal und nahm das I Ging aus den Reihen. Es war ein großes, uraltes Buch. Sie hatte das I Ging von ihrer Ziehmutter bekommen, als sie alt genug gewesen war, um es zu verstehen und selbst anzuwenden. Das Orakel wurde seit über zweitausend Jahren verwendet und galt als einer der ältesten chinesischen Texte. Frost konnte zwar die Feinheiten der Sprache nicht vollständig verstehen, doch seit sie eine englische Übersetzung des Textes gefunden hatte, benutzte sie es regelmäßiger.
Sie atmete tief durch und konzentrierte sich auf die Frage, die ihr immer wieder durch den Kopf ging. Was soll ich tun? Sie wollte nicht zurück in die Organisation, aber sie konnte Michaels Auftrag unmöglich ablehnen. Sie hatte ihm ihre Zustimmung gegeben.
Sie nahm drei chinesische Münzen und warf sie so lange, bis sie alle Striche des Hexagramms beisammenhatte. Dann schlug sie das I Ging auf.
»Hm, interessant«, murmelte sie, als sie bei den richtigen Linien angelangt war und die Übersetzung konsultiert hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die Antworten, die das Orakel ihr gegeben hatte, deuten sollte. Es sagte ihr, das eine zu tun, wobei sie eigentlich auch das andere tun könnte. Zukunft ungewiss. »Das hilft heute also auch nicht.« Frost schlug das Buch wieder zu und legte es zurück an seinen Platz im Regal. Manchmal blieben die Antworten, die das I Ging einem gab, kryptisch. Vielleicht hätte ihr ein Gelehrter, der sich seit Jahren mit dem Text auseinandersetzte, mehr dazu sagen können, doch der Aufwand war ihr stets zu groß erschienen. Sie hatte sich nie tiefer mit dem Buch befassen wollen. Das Ritual allein, es zu befragen, genügte ihr. Auch wenn es oft frustrierend endete.
Die Pendeluhr schlug zweimal. Frost starrte hinaus in das Schneegestöber, das London immer mehr in eine weiße Decke hüllte. Sie musste beginnen.
Michael Cho wartete vor den privaten Räumlichkeiten von Madame Yueh darauf, dass man ihn einließ. Er hatte um eine Audienz gebeten, nachdem er den Auftrag an Lydia überreicht hatte. Ihm waren Zweifel an der Richtigkeit der Sache gekommen.
Die rotlackierte Flügeltür wurde von innen lautlos geöffnet. Michael trat in den von Lampions und Kerzen erhellten Raum. Das Wandbild zu seiner Rechten stach ihm sofort ins Auge. Ein Meisterwerk. Als Lydia und er noch Kinder gewesen waren, hatten sie stundenlang davorgesessen und versucht, alle Details zu erkennen.
Madame Yueh saß auf ihrem Stuhl vor dem Parawan auf dem Podest, den Gehstock zwischen die Knie geklemmt, und schaute Michael aus scharfen Augen an. Sofort senkte Michael den Kopf und verbeugte sich respektvoll. Der Geruch der Räucherstäbchen vom Altar in der Ecke stach ihm in die Nase.
»Du wolltest mich sprechen, Michael Cho?« Die Stimme der Patriarchin hörte sich an wie trockenes Laub, doch ihre Worte waren klar wie ein Bergbach.
»Ich habe Zweifel, Mutter«, sagte Michael und benutzte dabei die förmliche Anrede für Mutter. Madame Yueh war die Mutter der Organisation. Er trat näher. »Die Sache mit Lydia …«
Der Blick der Greisin schien ihn zu durchdringen, sie sagte kein Wort. Michael presste die Lippen aufeinander. Er wollte Lydia verteidigen und Madame Yueh bitten, sie zu verschonen, doch die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Lydia war nun eine Außenseiterin, weil sie die Organisation verlassen hatte. Niemand hatte sie gehen lassen wollen, doch Lydia hatte schon immer ihren eigenen Kopf gehabt.
Michael befürchtete nur, dass Lydia diesmal zu weit gegangen war. Außenseiter wurden nicht geduldet, schon gar nicht, wenn sie so viel wussten wie Lydia.
»Willst du das Erbe deines Vaters antreten, Michael?«
Michael schaute auf. Ein harter Kloß steckte in seiner Kehle. »Ja, Mutter.«
»Dann tu, was ich dir aufgetragen habe. Lydia hat sich entschieden. Sie muss nun mit den Konsequenzen leben.«
Er nickte schweren Herzens. Er hatte keine andere Wahl. Im Hintergrund war die Sache schon angelaufen. Was nun geschah, lag allein in Lydias Händen.
Eine gute Stunde später entstieg Frost der ratternden Straßenbahn. Sie hatte ihre einfache Lederkluft gegen ein ordentliches Wollkostüm mit drei Schichten Röcken und passender Jacke eingetauscht. Statt ihrer derben Stiefel trug sie damenhafte Schnürstiefel, die ihr bis über die Waden reichten. Ihre dunklen Locken hatte sie zu einem Knoten gesteckt und einen schicken Hut darüber drapiert. Sie trug Lederhandschuhe und als zusätzlichen Schutz gegen die Kälte einen Muff aus Fuchsfell. Etwas zu viel für ihren Geschmack, und richtig frei bewegen konnte sie sich auch nicht, aber sie hätte schwerlich in diese feine Gegend gehen können, ohne entsprechend angezogen zu sein.
Sie befand sich in Belgravia, einem der nobelsten Stadtviertel Londons. Als die Straßenbahn anfuhr, sprühten Funken von der Oberleitung. Frost wäre zwar mit der Tube schneller hier gewesen, doch seit dem großen Streik der Gewerkschaften war man entweder leichtsinnig, lebensmüde oder nicht ganz abgeneigt, für ein paar Tage dort unten festzusitzen, wenn man die Untergrundbahn benutzte.
Sie bog in die Straße ein, die sie sich notiert hatte, und hörte durch den dichten Schneefall das leise Dröhnen eines Zeppelins über sich. Als sie hinaufschaute, sah sie geisterhafte Lichtstrahlen und einen dunklen, ovalen Schemen in den tiefliegenden Wolken über die Häuser hinwegziehen.
Sie fröstelte und schlug den Kragen ihres Mantels hoch. Jemand war dabei, den Schnee vom Gehweg zu räumen – in ihrem Viertel gab man sich nicht mal die Mühe –, und sie dankte dem Mann im Stillen, dass sie nun nicht mehr durch knöcheltiefen Schnee stapfen musste. Diese Schuhe waren wahrlich nicht für derartige Wetterverhältnisse geeignet.
Frost steuerte auf das Haus mit der Nummer zehn zu. Die Straße machte hier einen eleganten Bogen und umschloss einen winzigen Park. Die Häuser sahen alle gleich aus und standen wie ein cremefarbenes Bollwerk Schulter an Schulter. Auf der Treppe, die zur Eingangstür hinaufführte, schüttelte Frost den Schnee von den Schultern und vom Hut. Sie klingelte.
Ihr Blick fiel auf das Türschloss, und ein leises Lächeln huschte über ihr Gesicht. Rasch zog sie den rechten Handschuh aus und legte die Hand auf das Schlüsselloch. Sofort spürte sie, wie das Schloss ihr antwortete. Eine angenehme Wärme durchflutete kribbelnd ihre steifgefrorenen Finger.
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