Trotz der Aufmerksamkeit, die man der sozialen Verantwortung schenkte, erachteten viele der gegen 4000 Teilnehmer diese als zu gering. Aus diesem Empfinden heraus entstand während des Kongresses die „Radical Discipleship Group“, die eine Erklärung mit dem Titel „A Response to Lausanne“ entwarf. In dieser Erklärung wurde ein ganzheitliches Missionsverständnis vorausgesetzt und damit begründet, dass das biblische Heil die gesamte Schöpfung umfasst. Kernforderung der Erklärung waren die Worte: „Wir müssen den Versuch, einen Keil zwischen Evangelisation und soziale Aktion zu treiben, als dämonisch zurückweisen“ (Padilla und Sugden 1985, 9). Der scharfe Ton der Erklärung markierte den Beginn einer teilweise hitzig geführten Debatte, die sich erst ein knappes Jahrzehnt später merklich abkühlen sollte. Die Tatsache, dass die Erklärung während des Kongresses von fast 500 Teilnehmern unterzeichnet wurde zeigt, dass die Frage nach der Einordnung der sozialen Verantwortung in den Missionsauftrag zur Kardinalfrage der Evangelikalen geworden war.
Mit „A Response to Lausanne“ wurde deutlich, dass ein beträchtlicher Teil der Evangelikalen ein Missionsverständnis nach Lausanne mitbrachte, das sich vom evangelikalen Mainstream unterschied. Das Missionsverständnis dieser radikal gesinnten Theologen hatte die ganze Welt mit ihren Nöten im Blickfeld. Es fußte auf der Überzeugung, dass Mission mehr ist als die Rettung einzelner Menschen. Dieses erweiterte Missionsverständnis hatte Anstöße von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, vom Missionsverständnis der Ökumene und von der kontextuellen Theologie aufgenommen.4
Der Vorstoß der Radical Discipleship Group war so beachtlich, dass die soziale und politische Betätigung im Artikel 5 der Lausanner Verpflichtung zur missionarischen Pflicht gezählt wurde. Dieser Umstand setzte manche Vertreter aus dem Westen in Aufruhr. Noch zehn Jahre nach Lausanne klagte der Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus, der Artikel 5 habe den radikalen Evangelikalen Anlass für ein verändertes Missionsverständnis gegeben, das die biblische Lehre von der Erlösung verdunkle. Beyerhaus ging mit dieser Entwicklung scharf ins Gericht und bezeichnete sie als „verräterische Aufgeschlossenheit“ für die kontextuelle Theologie (Beyerhaus 1984, 12–13). In der Zwei-Drittel-Welt und bei radikalen Theologen im Westen wurde die Integration der sozialen Verantwortung in die missionarische Aufgabe hingegen begrüßt. Während die einen das Ergebnis von Lausanne als Anbruch eines neuen Missionszeitalters begrüßten (Costas 1977, 138), befürchteten andere, dass eine Angleichung an die ökumenische Position erfolgen und dies zum Ende der traditionellen Mission führen könnte (Johnston 1984, 20).
Der evangelikalen Bewegung stand nach Lausanne eine Zerreißprobe bevor, die sie bis in die 1980er Jahre hinein beschäftigen sollte. Zunächst aber wurden die Evangelikalen namentlich in Lateinamerika und Afrika vom Ergebnis von Lausanne beflügelt. Für viele war Lausanne „eine sehr wichtige Bestätigung für viele Dienste, welche die Evangelikalen, vor allem in der Zwei-Drittel-Welt, ausgeführt hatten, jedoch zum Teil hatten schweigen müssen, damit man sie nicht missverstand, sie würden die Hingabe an den Auftrag der Evangelisation abschwächen“ (Samuel und Sugden 1999, ix).
Die Lausanner Verpflichtung ist das wichtigste Kongressdokument der modernen evangelikalen Bewegung. Die Tatsache, dass die soziale Verantwortung zur missionarischen Pflicht gezählt wurde, bedeutete für die Evangelikalen in der Zwei-Drittel-Welt eine Legitimation ihres Standpunkts. Die Stimme der marginalisierten Christen aus den ehemals kolonialisierten Ländern war in Lausanne auf offene Ohren gestoßen. Dadurch wurden sie ermutigt, eine eigenständige evangelikale Theologie zu formulieren. Dieser Umstand kann als Meilenstein der Entwicklung einer kontextuellen evangelikalen Theologie gelten.5
Die Wirkung von Lausanne
Es ist nicht erstaunlich, dass die Ergebnisse von Lausanne vor allem in Lateinamerika erfreut zur Kenntnis genommen wurden. Zum einen waren die Beiträge der Lateinamerikaner René Padilla und Samuel Escobar interessiert aufgenommen worden. Zum anderen war Lateinamerika der Kontinent, der unter Anregung der Befreiungstheologie schon vor Lausanne begonnen hatte, eine eigenständige evangelikale Theologie zu entwickeln.
1979 fand in Lima ein Kongress über Evangelisation statt, an dem die Evangelikalen über die evangelistische Aufgabe in ihrem Kontext nachdachten.6 Die Teilnehmer beriefen sich namentlich auf die Lausanner Verpflichtung. So heißt es im Lima Letter, dem Brief, der die Kongressergebnisse den Kirchen zukommen ließ: „Wir bestätigen unser Festhalten an der Erklärung des Ersten Lateinamerikanischen Kongresses über Evangelisation und an der Verpflichtung des internationalen Kongresses über Evangelisation im schweizerischen Lausanne im Juli 1974“ (Lima Letter 1985 [1979], 15).
Auch in Asien zeigte der Geist von Lausanne Wirkung. Hier waren es vor allem der Inder Vinay Samuel und sein britischer Kollege Chris Sugden, die die Evangelikalen Asiens ermutigten, eine authentische asiatische Theologie zu entwickeln (Samuel und Sugden 1980, 50–51). Dass diese Anstiftung erfolgreich war, zeigt die Madras Declaration of Evangelical Social Action India, die an einer Konferenz indischer Evangelikaler verabschiedet wurde.7
In meiner Dissertation habe ich gezeigt, dass in der Madras Deklaration drei Themen als Ausdruck radikaler Theologie in den Vordergrund treten (Hardmeier 2008, 36–37). Erstens wurde in der Madras Deklaration das Eintreten für soziale Gerechtigkeit vom Alten Testament und vom Gesamtwerk Christi her begründet und das Geschehen am Kreuz soziologisch gedeutet. Letzteres bedeutet, dass das Kreuz nicht nur als Heilsgeschehen betrachtet wurde, sondern dass von ihm auch Folgerungen für die sozialen Beziehungen abgeleitet wurden. Zweitens wurde ein klares Bekenntnis zum sozial-politischen Handeln abgelegt und dieses mit der Pflicht des Christen zur Nächstenliebe begründet. Drittens wurden die strukturellen Verwerfungen Indiens beklagt und wurde die Verpflichtung auf sich genommen, sich für gerechte Strukturen einzusetzen. Damit waren wichtige Eckpfeiler eines transformatorischen Missionsverständnisses vordefiniert. In Madras wurde deutlich, dass sich auch in Asien ein evangelikales Segment gebildet hatte, dessen Theologie radikaler Natur war. Es unterschied sich schon wenige Jahre nach Lausanne erheblich von der Theologie der Evangelikalen im Westen.
Von Lausanne gelangten entscheidende Impulse auch nach Afrika. 45 der über 400 afrikanischen Delegierten in Lausanne versammelten sich während der Konferenz zu einem informellen Austausch und begannen mit den Vorbereitungen für einen afrikanischen Folgekongress. Der Lausanner Kongress hatte „die afrikanischen Teilnehmer darin bestärkt, die Evangelisation in Afrika voranzutreiben, aber diesmal durch Afrikaner, auf afrikanische Art und bezogen auf aktuelle Nöte, Fragen und Herausforderungen dieses Kontinents“ (Kapteina 2001, 112).
Die in Lausanne angeregte afrikanische Konferenz fand 1976 als Pan African Christian Leadership Assembly in Nairobi statt. Im Zentrum der Konferenz stand die Suche nach der Bedeutung des Evangeliums für den afrikanischen Kontext. Die Teilnehmer „suchten primär nach Gegenwartsrelevanz der christlichen Verkündigung und konzentrierten sich daher mehr auf die Identitätsthematik des modernen Afrikaners. Sie wollten mit der Übersetzungsaufgabe der Theologie ernst machen und widmeten daher Themen kontextueller Theologie einen weiten Raum … [Es] fand eine erste theologische Einbeziehung der inneren und äußeren Umwelterfahrung des modernen Afrikaners in die Afrikanische Evangelikale Theologie statt“ (Kapteina 2001, 125–126).
Nairobi war für die Evangelikalen Afrikas ein wichtiger Kongress. Er ermöglichte einen konstruktiven Austausch zwischen westlichen, afrikanischen und lateinamerikanischen Evangelikalen und man scheute auch den Dialog mit ökumenischen Theologen nicht. Die Anstiftung zur gesellschaftlichen Relevanz ging in Nairobi und auch bei späteren afrikanischen Kongressen zu wesentlichen Teilen von radikalen Theologen Lateinamerikas aus. Sie regten dazu an, eine auf Transformation ausgerichtete Missionspraxis zu entwickeln. So forderte Orlando Costas an einem der Folgekongresse, der South African Christian Leadership Assembly 1979 im südafrikanischen Pretoria: „Um Christus in unseren jeweiligen Situationen der Unterdrückung zu inkarnieren, muss die Kirche als Ganzes und durch ihre Mitglieder in diese Situationen eintauchen und für ihre Transformation СКАЧАТЬ