Название: Mond über Beton
Автор: Julia Rothenburg
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783627022921
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Ario will sich umdrehen, da sieht er ihn plötzlich, den Engel. Oder zumindest glaubt er das. Er hatte ja Fieber. Hat gedacht, er träumt. Kann sich an das Gesicht jetzt erst erinnern, wo er es sieht. Sonst: schwarze Fläche. Kennt nur noch die Stimme. Aber sie sagt ja gerade nichts, ihr Schritt ist schnell. Wird von allen angeglotzt.
Ario beschleunigt seinen Schritt. Ignoriert sogar das Smartphone, das dem einen Engländer keck aus der Arschtasche linst.
Wo will sie denn so schnell hin? Würde ein Engel nicht fliegen? Genau, flieg, Engel, flieg über das Kottbusser Tor, diesen Riesenklotz, dieses herrlich schwarze Loch von Berlin.
Dass Engel immer da sind, wo man sie nicht erwartet. Gab’s doch in Freiburg auch manchmal. Ein Lichtschimmer hier, und die dummen Studenten da, die ihr Mensafutter immer nicht schafften. Dabei ist das doch, diese kleinen Studentenmägen, von ihren Mamis zu Walnussgröße zusammengeschrumpft. Da passt nur Müsli rein. Hat Alnaturagröße.
Da hat er sich immer hingesetzt an die gedeckten Tische, wo noch die halbvollen Teller standen, und ordentlich zugelangt.
Der Engel geht tatsächlich zum Museum. Was er da will? Das Haar glänzt so schön. Links und rechts vom Eingang Müll. Im Museum war er auch schon. Klar war er da, gleich als Erstes, als er angekommen ist. Heimat ist immer da, wo man informiert ist. Über die Gegend. Und wo man weiß, wo man Wasser, Essen herkriegt, wo man ficken und schlafen kann.
Ario wartet vor der Tür. Will sie ja nicht verschrecken. Aber sie kommt nicht wieder hinunter. Kommt nicht rausgeflattert. Da oben ist irgendwas. Andauernd läuft wer an ihm vorbei, durch die Fenster des Glasturms sieht man sie die Treppe hinaufschnaufen. Das könnte sich lohnen. Drei fette Männer verschwinden in der Tür. Wo Menschen sind, da ist Geld, da ist Dummheit. Matheunterricht, weiß er auch noch: Menschen wachsen linear, Geld und Dummheit exponentiell.
Ario spuckt auf eine Taube und hält mit einem Zwinkern einer alten Trulla die Tür auf.
* * *
Mutlu macht sich auf den Weg.
Flur: oben kaputte Rundglaslampe, staubig, von unten sieht man mit verzweifelten Flügelschlägen Fliegen oder Motten oder Mücken gegen das Gehäuse klatschen. Surrende Geräusche, kaum wahrnehmbar, dazu sein eigener fester Schritt. Mutlu bleibt stehen. Seine Schritte verstummen. Das Sirren bleibt. Er hat vergessen, die Wohnungstür abzuschließen.
Tür: noch immer der Fußabtreter, das Willkommen, voller Flecken schon. Vages Licht darauf. Am Gangende die Fenster: schmierig, ölig, Blick auf das Kottbusser Tor. Kottbusser Tor, Kotti.
Gut sichtbar auf dem Platz die Jungsgruppe, Burak irgendwo darunter. Die Dämmerung hat noch nicht einmal begonnen, und trotzdem blinken schon die Werbetafeln, die Anzeigen. Sonne, Sterne, Mond überm Kotti. Das Licht auf den Köpfen der Jungs.
Mutlu steht da und hat einen Moment vergessen, wohin.
Warum will ein Mensch sich selber quälen?
Mutlu hat damals gleich das Bad herausgerissen, die Kacheln, jetzt hängt dort Elektromüll aus den Wänden. Den Rest hat Mutlu so gelassen. Die ganze Wohnung ist ein Museum. Nur Barış und Burak, die altern, die werden immer älter, die verweigern sich dem Museum. Sind keine Exponate. Lassen sich nicht abstauben.
Neulich ist Mutlu nachts aufgewacht, weil sein Penis unter der Bettdecke hart geworden war, nach oben stakte. Er hatte dagelegen und sich nicht bewegt. Am nächsten Morgen ist er wieder zur Arbeit gegangen. Cemal hatte die Warenbestellung in den Sand gesetzt, und es gab schon wieder zu viele Aprikosen.
Die Versammlung fängt in zehn Minuten an, und Mutlu dreht den Schlüssel im Schloss. Er hat sich einen Zettel geschrieben, damit er nicht vergisst, was er sagen will. Den Stift hattest du immer im Schlafzimmer aufbewahrt. Weil Mutlu vergesslich ist. Lesen macht ihm Freude, aber zum Schreiben fehlt ihm meistens die Lust.
Bei meiner Grundsteinlegung war alles schon vorbei. Dabei war das Wetter so schön. Wo ich hinsollte, war ein Loch.
Schon wieder kamen Journalisten, aber diesmal hatten sie keine freudige Aufregung zu verbreiten, keine Utopie, sie sperrten ihre kleinen rosa Münder auf stattdessen, und die Sätze hatten sie schon vorgeschrieben, zu Hause in der Redaktion.
Man würde die Einwohner verdrängen! Luxus hieß es erst, dann Sozialwohnung. Ein Investor war dick, einer dünn. Man konnte Geld anlegen in mich. Die schöne Altbausubstanz, heulten die ersten. Dabei hatte Willy Brandt zehn Jahre zuvor noch unter Jubel verkündet, man dürfe kein Geld mehr investieren in überalterte Gebäude. Neu, macht neu, Genossen!
Das alles – das hatte nichts mit mir zu tun!
Man stopft Geld in etwas, immer mehr, und dann ärgert man sich, wenn unten Kacke herauskommt. Ich war ein Baby. Man hätte es wissen müssen: Mein Stillstuhl war aus Beton.
Die Stühle stehen richtig, Marianne ist zufrieden. Sind die Mikrofone eingeschaltet? Ja, die Mikrofone sind eingeschaltet. Wunderbar, wie das heute funktioniert, die Zusammenarbeit im Stadtteilmuseum. Das ist natürlich nicht immer so. Aber wenn es mit dem Kotti so schwierig ist, muss man zusammenhalten, irgendwas muss man schließlich tun dagegen, gegen die eigene Angst auch. Die wird ja gefüttert von Einsamkeit und Nichtstun. Hat sie neulich zu Günther gesagt: dass wir da jetzt eben alle zusammenhalten müssen.
Ob Günther zugehört hat? Das fragt sie sich in letzter Zeit häufiger. Manchmal schaut er einfach so vor sich hin. So wie jetzt. Er kommt ja immer, zu jeder Veranstaltung, zu jedem Bürgergespräch. Aber dann sitzt er da und hat so glasige Augen. Früher hätte er das nicht auf sich sitzen lassen, dass die ganzen Türken das Wort an sich reißen, die Versammlung dominieren. Wollen immer allen ihre Geschichte erzählen, wie schlecht es ihnen geht. Dem Handel. Die Verdrängung.
Da regt sich Günther ja schon drüber auf, abends dann aber erst. Was sollen wir denn da sagen? Werden wir etwa nicht verdrängt? Gab’s hier nicht früher auch ein paar Läden, weißt du noch, die Metzgerei, andere, bevor die Gemüseläden kamen? Riecht unser Fahrstuhl nicht auch nach Pisse? Und was sollen wir überhaupt mit dieser ganzen komischen Spitzpaprika? Wo ist die gute alte Paprika, die runde, hin? Wohl zu fein für die alte, immer neu, immer schick, und dann aber im Fahrstuhl in die Ecke spucken. Und dieser Uringeruch überall. Und vor allem im Fahrstuhl. Was man selber halt nicht braucht, bei sich hui, bei anderen pfui.
Ach Günther, sagt sie dann. Jetzt reg dich nicht so auf. Wir haben doch hier ganz andere Probleme. Und überhaupt: benutzen doch alle denselben Fahrstuhl.
Aber recht hat er ja, zumindest teilweise, auch wenn sie das jetzt nicht so negativ sehen würde. In Kreuzberg, da hat sich eben einiges verändert. Manchmal weiß sie schon gar nicht mehr, wie es früher war, so anders ist es jetzt. Aber da hilft ihr die Arbeit im Stadtteilmuseum, da sieht sie Bilder, ein ganzes Archiv voller Bilder, als schon blass gewordene Erinnerungsstützen für ein fast vergessenes Damals. Neulich erst hat sie darüber nachgedacht und eine Liste erstellt. Nicht in echt, also drüber nachgedacht hat sie schon. Einfach mal mehr aufschreiben. Die Liste gibt es bisher nur in ihrem Kopf, vorerst sozusagen. Aber ordentlich angewachsen ist sie bereits, ewig könnte sie Sachen aufzählen. Zum Beispiel.
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