Название: Mond über Beton
Автор: Julia Rothenburg
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783627022921
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Aber braucht man das alles?, fragt Aylin.
Wie, äh?, sagt der Typ.
Na ja, gehen kann es ja ohnehin nicht oder, da sind doch die Beine im Großen und Ganzen. Kann man die abschrauben, ich meine, bis sie gebraucht werden?
Ah, haha, sehr witzig, sagt Blondie und lacht hysterisch. Ja, also ausprobiert hab ich’s nicht, aber meine Freundin, also vielleicht, haha, abschrauben, witzig.
Sehr süß, sagt Aylin.
Die Augen vom Baby sind groß und viel zu farblos.
Und jetzt mach mal Ah, sagt sie zu dem Baby. Ah! Aylin bleckt die Zähne.
Das Baby spielt mit und sperrt den Schlund auf.
Äh, sagt der Typ.
Jetzt ist er also da, der Punkt, auf den Aylin gewartet hat. An dem die Stimmung kippt.
Die Augen fallen dem Typ fast heraus aus dem weißen Gesicht. Also ich muss dann, sagt er, tritt unbehaglich einen Schritt nach vorne.
Ja, du hast aber einen Riiiesenmund, sagt Aylin zum Baby. Was da alles reeeinpassen würde.
Das Baby lacht keckernd. Im Babyschlund sind keine Zähne. Fleischig ragt nur ein Vorsprung hinein, wo die mal rauswachsen sollen, eine fleischige Düne vor schwarzem Abgrund. Baby strampelt im Arm, will näher ran an sie mit seinem Schlund. Aylin lässt das Baby in ihren Armen wackeln. Das Baby kreischt vor Vergnügen.
Der Blonde guckt wie ein Fisch.
Aylin lässt ihn noch kurz zappeln. Dann sagt sie:
Hier hast du’s wieder, und drückt dem Typen das Baby in den Arm. Muss los.
Sie lässt sich Zeit, sie spürt genau, wie sein erschrockener Blick ihr folgt. Der Dramatik wegen lässt sie ihre Haare ein wenig im Wind flattern. Sonne auf offenen Haaren, mit diesem Blick dran.
Mehmet sagt ja immer: Wenn du so was machst, Aylin, kriegst du das früher oder später zurück. Aber wenn sie Mehmet das von grad eben erzählt, der lacht sich tot.
Sie muss sich nicht umdrehen, sie weiß auch so, dass Bübchen glotzt, bis sie hinter dem nächsten Busch verschwunden ist. Gleich schon viel besser so ein Tag.
Aylin atmet Straßenluft und lacht.
* * *
Barış zoomt. Ist gar nicht so einfach durch das Fenster. Über die Balustrade hinweg. Vielleicht sollte er rausgehen, sich direkt dort hinstellen. Andererseits, am Ende kommt noch irgendein Spacko auf die Idee, ihm die Kamera abzuziehen. Für die hat er lange genug gespart. Okay, war nicht alles gespart. Er weiß ja, wo Aylin ihr Geld versteckt. Wird er natürlich zurückzahlen, Ehrensache. Wenn das YouTube-Geld kommt, das erste. Wenn er Anzeigen schalten kann, Product Placement. Wenn er 100 000 Klicks hat, oder so, so wie Kaan. Wenn er ein Eightpack hat. Ein bisschen was sehen kann man ja schon.
Barış zoomt ran, erst auf den Alki, der schon wieder auf dem Dach der Bushaltestelle steht und rumgrölt, sein Bier auf Touris runterschüttet, die zurückweichen und dabei so tun, als mache ihnen das nichts aus. Nein, wir machen hier nen Bogen, weil wir sowieso lieber woanders langlaufen wollten.
Haha, Story.
Aber den Alki hat er schon mal hochgeladen, kam nicht so gut an, ist ja im Grunde genommen auch langweilig, wie der da oben rumspastet. Einmal hat er auf die Bushaltestelle gekotzt, die Kotze lief am Glas runter, bröckelige Bahnen, das hatte schon was. Geile Optik, hatte jemand in die Kommentare geschrieben, gerade mit den Stücken an der Parship-Werbung.
Barış zoomt direkt auf Buraks Hinterkopf vor den Hinterköpfen seiner Loserfreunde. Wie die da rumlungern, direkt in der Nähe von irgendwelchen Touris. Manchmal geht einer aus dem Pulk von Buraks Freunden hinüber, redet mit den Hipstern. Aber es passiert nichts.
Wenn nicht bald was passiert, wird das schon wieder kein guter Content. Genau wie das Video vorhin. Hat er immer noch nicht hochgeladen. Rosa Wand und so. Eh egal.
Barış filmt näher an Burak ran und wartet.
* * *
Ario mag das Gefühl, wie die Junkies zurückweichen, wenn er kommt. Tun die eigentlich bei keinem, außer bei der Polizei, ansonsten: stehen da und sabbeln ganz selbstvergessen ihre Geschichten in ihre Gesichter hinein. Dass man daran die Junkies erkennt, das wusste er schon als kleiner Junge. Auf die Wangenknochen muss man achten. Wusste er, bevor er überhaupt wusste, dass das so heißt: Wangenknochen.
Warum bei ihm, weiß er nicht. Merken wohl, dass ihm keiner dumm kommen kann. Dass er schon alles gesehen hat. Hat er natürlich nicht, aber ist egal, kommt drauf an, wie man wirkt. Weitere Lektion seines Lebens: Kommt immer drauf an, wie man wirkt.
Ario steht auf dem Platz, und die Sonne scheint, nur irgendwie hier nicht, Wolke überm Kotti. Ist grell trotzdem, graues Grell, spiegelt sich tausendfach im Beton. Beton ist sein Element. Grau und Beton, das ergibt eine Wörterreihe: grau, Beton, Ario. Ach Quatsch, Alphabet: Ario, Beton und so weiter. Alphabet, da denkt er immer an seine Grundschullehrerin, die einzige, die er noch vor Augen hat, Knoten am Kopf hinten, Brille ohne Rand, weiche Hände auf seinen Schultern. Wörterreihen schreiben, Schönschrift. Ario, Ario, Ario, Beton, Beton, Beton, Cent, Cent, Cent, Dach, Dach, Dach, Elektrozaun, Elektrozaun, Elektrozaun, Flur, Flur, Flur, grau, grau, grau.
Die U-Bahn reihert massenweise Touristen auf den Platz, und trotzdem war er heute noch nicht erfolgreich. Er hat kaum Geld übrig. Die letzten Tage, ein Jammertal. Da hat auch die Aspirin aus dem Café nicht geholfen. Die Ehrenamtliche hat ganz erschüttert geguckt. Wie siehst du denn aus? Soll ich den Arzt?
Bloß nicht, nein, nein, nicht so schlimm, hat er gesagt. Bin das ja gewohnt. Die schluckt echt alles. Nie ist er krank gewesen. Mal abgesehen von dem einen Besuch in der Psychiatrie. Emmendingen. Der ganze Ort ist eine Psychiatrie. Erinnert sich an die weißen Gänge. An das Geschrei nachts am anderen Ende des Korridors. Irgendein Schizophrener. Jesusfantasien in der Mittagspause. Das ist der Herr Jesus, hat seine Mutter mal zu ihm gesagt, Kindheit, Kirche, Kruzifix, ein Holzjesus an der Wand. Das ist der Herr Jesus, genau in diesem Ton, eins der wenigen Dinge, die die Mutter mal gesagt hat und die er noch weiß. Und beim Mittagessen kamen zu ihm dann die Schizophrenen, auserwählt von Jesus, von Maria. Lange weiße Gänge, durch die die Erwählten schlurften, eine Reihe von Heiligen, braune Pantoffeln. Spitze Schuhe durfte man nicht tragen.
Gab eine hübsche Doktorandin in Emmendingen, immerhin. Blond, Grübchen in den Wangen. Einmal hat er sie in den Arsch. Hat sie aufgequiekt. Hat ihm fast eine gescheuert. Aber hat sie dann doch nicht gemacht, sah nur die kleine Hand zucken und der Mund, ein O. Ihm hat noch keine was. Dafür kann er zu gut zwinkern. Ups, ein Versehen. Hübsche Augen hast du.
Setz dich, Ario, hatte die Ehrenamtliche gesagt, ihn an der Schulter auf den Stuhl gedrückt. Setz dich, ich hol dir ein Glas Wasser.
Hatte die Aspirin für ihn drin aufgelöst, ihm Tee gebracht. Da war er natürlich schon weg. Hat nur von der Tür aus gesehen, wie sie dastand, den Pony vorm Gesicht, gebeugt über eine Schüssel, in die sie die Zitrone ausdrückte. Ein paar Kerne flutschten rein, und sie schaute, ob jemand hinguckte, dann pulte sie die Kerne aus der Schüssel heraus mit ihrer bloßen Hand. Dummes Ding. Aber niedlich.
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