Название: Verantwortlich leben
Автор: Timothy J Geddert
Издательство: Bookwire
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783862567348
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1. Die direkte Anwendung
Diesen Ansatz habe ich bereits kurz angesprochen. In der Theorie klingt er irgendwie biblischer, zuverlässiger und einfacher als die anderen: »Immer, oder zumindest im Zweifelsfall, einfach tun, was im Text steht! Das ist bibeltreu.« Das klingt gut. Es funktioniert aber schlecht. Wenn wir diesen Ansatz ernsthaft und konsequent verfolgen wollten, dann müssten wir allerdings sehr viel vom Alten Testament beiseite schieben und Gottes Wegweisungen hauptsächlich im Neuen Testament suchen. (Und, wie wir später noch sehen werden, geraten wir auch im Neuen Testament manchmal in Schwierigkeiten.) Denn wenn wir das Alte Testament wörtlich nehmen und direkt anwenden, dann wäre es uns erlaubt, unsere Töchter in die Sklaverei zu verkaufen und Sabbatbrecher zu steinigen. Es wäre uns verboten, unseren Bart zu rasieren. Wir dürften keine Kleidung anziehen, die aus mehr als einem Material hergestellt wurde, zum Beispiel Baumwolle und Polyester usw.
Manchmal entdecken wir im Neuen Testament, dass einiges aus dem Alten Testament aufgehoben wird (Essensvorschriften, Tieropfervorschriften usw.). Aber es gibt auch viele Beispiele dafür, dass im Neuen Testament nicht aufgehoben wird, was im Alten Testament gelehrt wurde. Also geraten wir in Schwierigkeiten. Wenn wir tatsächlich alles direkt anwenden wollen, dann müssen wir vieles in Frage stellen, was wir tun, oder aber vieles im Alten Testament (eigentlich auch im Neuen!) ausklammern – oder, und das sollten wir meiner Meinung nach auch tun, wir suchen uns zusätzliche Hilfen, wenn die direkte Anwendung entweder unmöglich oder wahrscheinlich gar nicht von Gott gewollt ist.
2. Das Prinzip neu anwenden
Die direkte Anwendung eines Bibeltextes ist oft nicht möglich, und häufig wäre sie auch gar nicht richtig. Dann suchen wir nach allgemeinen Prinzipien, die der Text lehrt, und überlegen, wie solch ein Prinzip in unserer Situation angewendet werden sollte. Ein Beispiel:
Wenn wir darauf bestehen, dass jede Aufforderung der Bibel für alle verbindlich ist, dann haben wir natürlich ein Problem, wenn wir den folgenden Vers lesen: »Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich dir etwas anderes auftrage« (Matthäus 2,13). Soll ich mich wirklich damit angesprochen fühlen? Soll ich einen Flug nach Kairo buchen? Welches meiner Kinder soll ich mitnehmen? Was ist mit Leuten, die weder Frau noch Kind haben? Solche Menschen können diesem Text doch gar nicht gehorchen. Aber das müssen sie auch nicht: Hier spricht ein Engel im Traum zu Josef, und nicht Gott direkt zu mir oder zu Ihnen. Gibt es aber vielleicht Prinzipien, die wir aus diesem Text gewinnen können? Sicher! Zum Beispiel:
a) Es lohnt sich, auf Gottes Wort zu hören, denn dadurch werden wir manchmal vor Gefahren gewarnt und beschützt; oder auch:
b) Gott ist zuverlässig und führt seine Pläne durch; menschliche Versuche, Gottes Pläne zu verhindern, sind vergeblich!
Ein anderes Beispiel: Sehr viel, was Paulus seinem jungen Mitarbeiter im 2. Timotheusbrief schreibt, gilt auch für mich. »Halte dich an die gesunde Lehre … Bleibe beim Glauben und bei der Liebe (1,13). Bewahre das dir anvertraute kostbare Gut durch die Kraft des Heiligen Geistes, der in uns wohnt (1,14). Sei stark in der Gnade, die dir in Christus Jesus geschenkt ist« (2,1). Der Apostel spricht auch mich an! Aber ich fühle mich weniger angesprochen, wenn er Timotheus schreibt: »Wenn du kommst, bringe den Mantel mit, den ich in Troas bei Karpus gelassen habe, auch die Bücher, vor allem die Pergamente« (4,13). Auch wenn ich eine Wallfahrt nach Troas unternehmen könnte, wären Paulus’ Mantel und Bücher sehr wahrscheinlich nicht mehr dort. (Und er braucht sie inzwischen sowieso nicht mehr …) Ist der Text damit also unwichtig, nur weil wir nicht direkt in die Praxis umsetzen können, was dort steht? Keineswegs. Aus diesem Text können wir lernen:
a) Es ist eine christliche Tugend, uns gegenseitig zu helfen, und es ist auch völlig in Ordnung, um Hilfe zu bitten; oder auch:
b) Gott kümmert sich nicht nur um »geistliche« Angelegenheiten; auch unser leibliches Wohl sowie unsere geistige Nahrung sind ihm wichtig.
Dass wir keine Reise nach Ägypten und Troas machen müssen, um bibeltreu zu sein, ist natürlich allen sonnenklar. Dennoch sagen manche, sobald es um andere Themen geht: »Die geschichtliche Situation eines biblischen Textes ist irrelevant – befiehlt oder verbietet die Bibel etwas, dann gilt das zu jeder Zeit für alle Menschen.« Warum sind dann aber so wenige von ihnen unterwegs nach Ägypten oder Troas?
Fast alle Texte sind anlassbezogen, und wenn wir dies in Betracht ziehen, betreiben wir keine »Situationsethik«, sondern wir entdecken zuverlässiger, was ein Text uns sagen will. Das heißt nicht, dass wir den Text immer anders anwenden als in der ursprünglichen Situation. Manchmal wenden wir ihn genauso an, wie es damals erwartet wurde. Aber manchmal auch nicht. Es muss also die Frage gestellt werden: Was steckt hinter einer biblischen Aussage, wodurch ist sie motiviert? Und was hat dieser Text in unserer Situation zu sagen? Auch wenn es nicht immer leicht ist, die angemessenen Prinzipien von Bibelstellen zu formulieren, so ist es doch unerlässlich, danach zu suchen. Das führt uns oft zum Ziel eines Textes. Und so ist dieser zweite Ansatz in vielen Fällen ausreichend, um einen Text angemessen anzuwenden. Den Text verstehen, das Prinzip erkennen, fragen, was das für uns bedeutet – und wir haben die Bibel gehört und können ihr gehorchen! Dazu allerdings drei leise Warnungen:
a) Eine Gefahr besteht darin, dass wir Prinzipien entdecken und den Text anschließend beiseite legen. Prinzipien helfen uns, einen Text angemessen anzuwenden. Sie sollen ihn aber nicht ersetzen. Gott hat uns die Texte gegeben. Sie bleiben bestehen – die Prinzipien sollen immer wieder neu anhand der Bibel überprüft werden, und in neuen Situationen werden wir weitere Prinzipien entdecken.
b) Eine zweite Gefahr ist, dass wir nicht erkennen, wie subjektiv unsere Suche nach Prinzipien eigentlich sein kann. In der Tat finden wir oft genau die Prinzipien, die wir brauchen, damit der Text nicht unsere vorgefertigten Meinungen in Frage stellt, damit wir unsere Traditionen verteidigen können oder ganz einfach damit wir nicht gegen den Strom unserer Kultur schwimmen müssen. Der Text soll unsere Überzeugungen immer in Frage stellen können, sonst ist die Bibel für uns nicht mehr Maßstab, auch wenn wir das behaupten.
c) Die Suche nach Prinzipien ist wichtig, aber sie garantiert noch keinen Konsens. Wenn wir Texte unterschiedlich interpretieren, dann häufig nicht, weil unsere Auslegungen sich unterscheiden, sondern weil wir verschiedene Prinzipien entdecken. Wenn Paulus über Götzenopferfleisch redet (zum Beispiel in Römer 14,13–23), dann ist das Prinzip nicht all zu schwer zu entdecken: Paulus wollte, dass wir Rücksicht aufeinander nehmen, damit unsere Freiheit nicht zum Problem für andere wird. Dieses Prinzip können wir in vielen Situationen anwenden. Aber was ist das Prinzip hinter seinen Anweisungen in 1. Korinther 11 (dem Text über die Kopfbedeckung der Frau)? Hier ein paar denkbare Alternativen:
• »Unsere Bekleidung soll kulturell angemessen sein, damit wir nicht deswegen auffallen.«
• »Im Gottesdienst sollen Unterschiede zwischen Männer- und Frauenkleidung sichtbar sein, um zu zeigen, dass der Mann das Haupt der Frau ist.«
• »Im Gottesdienst sollen Frauen sich so verhalten und so erscheinen, dass die Engel nicht in Versuchung kommen« (siehe 1. Korinther 11,10).
• »Frauen haben das Recht, im Gottesdienst dieselben Geistesgaben wie Männer zu praktizieren, solange sie nicht versuchen, durch ihre Kleidung ihre Weiblichkeit zu verleugnen.«
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