Название: Fratelli tutti
Автор: Papst Franziskus
Издательство: Bookwire
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783843613149
isbn:
Dabei ist Franziskus nicht naiv. Dialog und Begegnung bedeuten nicht, dass er oberflächlichen Freundlichkeiten das Wort redet. Im sechsten Kapitel beschäftigt er sich eingehend mit »Dialog und sozialer Freundschaft«. »Der echte Dialog innerhalb der Gesellschaft setzt die Fähigkeit voraus, den Standpunkt des anderen zu respektieren und zu akzeptieren, dass er möglicherweise gerechtfertigte Überzeugungen oder Interessen enthält« (FT 203). Unterschiede, so Franziskus kurz zuvor, brächten zwar Konflikte hervor, »die Einförmigkeit jedoch erstickt und bewirkt, dass wir uns kulturell selbst vernichten« (FT 191). Aus diesem Grund fordert er nicht nur einen »integrativen Sozialpakt«, sondern auch einen Kulturpakt, »der die unterschiedlichen Weltanschauungen, Kulturen oder Lebensstile, die in der Gesellschaft nebeneinander bestehen, respektiert und berücksichtigt« (FT 219). Das Ganze mündet dann in der Vorstellung des Polyeders als des geeignetsten Gesellschaftsmodells. »Der Polyeder stellt eine Gesellschaft dar, in der die Unterschiede zusammenleben, sich dabei gegenseitig ergänzen, bereichern und erhellen, wenn auch unter Diskussionen und mit Argwohn« (FT 215). In diesem Sinn ist dann auch eine Zusammenarbeit der Glaubenden verschiedener Religionen möglich sowie ein gemeinsames Handeln mit den Nichtglaubenden.
Der Titel irritiert
Im Vorfeld der Veröffentlichung gab es heftige Diskussionen über den Titel der Enzyklika. Grenzt »Fratelli tutti« die Frauen aus? Hätte der Papst nicht einen gendersensibleren Titel wählen müssen? Niklaus Kuster, Kapuziner und Experte für franziskanische Spiritualität, betont, dass der wahre Adressat des Ursprungstextes, den der Papst hier zitiert, alle Menschen sind, Männer und Frauen.1 Der Titel ist den sogenannten »Ammonizioni« des heiligen Franz von Assisi entnommen. Diese Texte wurden in Teilen zunächst als »Ermahnungen« für die Mitbrüder geschrieben, sehr schnell aber zu einer »Sammlung von Weisheitslehren« zusammengefasst, die sich dann an alle Glaubenden richteten. »Um den finalen Adressaten der vom Papst zitierten Textsammlung zu erkennen, muss zwischen der Entstehung der Textteile und ihrer Endkomposition unterschieden werden. In dieser weitet sich der Ausdruck der ›fratres‹ nämlich vom kleinen Insiderkreis auf alle Menschen.«2 Kuster weist zudem darauf hin, dass die Textsammlung, der das Titelzitat entstammt, auch als »›Magna Charta‹ der christlichen Geschwisterlichkeit« bezeichnet wird. Damit ist die Grundaussage, die der Papst mit dem Titel treffen will, klar.
Zugleich müsste aber auch dem Papst bewusst sein, in welche Zeit hinein er spricht. Die Frauenfrage ist hochaktuell. Zu viele Verletzungen gab und gibt es im Bereich der katholischen Kirche. Hier sind die Frauen zu Recht sehr sensibel. Daher fällt sofort auf, dass der Papst in dem neuen Dokument keine einzige Frau zitiert. Selbst am Ende, wo er mit dem Verweis auf Martin Luther King, Desmond Tutu und Mahatma Gandhi versucht, den Kreis derer, die ihn für seine Enzyklika über die Geschwisterlichkeit inspiriert haben, über die katholische Tradition hinaus zu öffnen, nennt er keine Frau. Die Frauen werden den Papst sicherlich auch fragen, wie das mit der gleichen Würde und den gleichen Rechten ist, die er für die Frauen in der Gesellschaft einfordert. Welche Glaubwürdigkeit hat diese Aussage angesichts der Situation innerhalb der katholischen Kirche?
Aus der Tradition kommend …
Nun geht es in dieser Sozial- und Friedensenzyklika nicht um innerkirchliche Fragen. Es geht Franziskus um das Verhältnis der Kirche zur Welt und um ihre Aufgabe in der Welt. Hier beruft er sich auf die zentralen Sätze der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, um das soziale Handeln der Kirche zu begründen. »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi« (GS 1, zitiert in FT 56). Mit den Verweisen auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter im Lukasevangelium und auf die Frage Gottes an Kain – »Wo ist Abel, dein Bruder?« – legt Franziskus das biblische Fundament für seinen Traum von der geschwisterlichen Welt.
Dabei stellt er sich in die Tradition der katholischen Soziallehre. Gerade an zentralen Stellen der Enzyklika zitiert er seine Vorgänger. »Die Kirche ›hat eine öffentliche Rolle, die sich nicht in ihrem Einsatz in der Fürsorge oder der Erziehung erschöpft‹, sondern sich in den ›Dienst der Förderung des Menschen und der weltweiten Geschwisterlichkeit‹ stellt«, erklärt er mit den Worten seines Vorgängers Benedikt XVI. aus dessen Enzyklika »Caritas in veritate« (FT 276). Von Johannes Paul II. übernimmt er nicht nur den Gedanken, dass »Gott die Welt dem ganzen Menschengeschlecht geschenkt [hat], ohne jemanden auszuschließen« (FT 120), sondern auch die für die aktuelle Argumentation entscheidende Feststellung, dass »wenn es keine transzendente Wahrheit gibt, der gehorchend der Mensch zu seiner vollen Identität gelangt, […] es kein sicheres Prinzip [gibt], das gerechte Beziehungen zwischen den Menschen gewährleistet« (FT 273). Mit Paul VI. fordert Franziskus die Rückbindung des privaten Eigentums an das Gemeinwohl und dass die weltweiten Rüstungsausgaben in einen Fonds zur Bekämpfung von Hunger und Armut umgewidmet werden.
… die Tradition weiterdenkend
Wirklicher Friede ist nur möglich infolge einer globalen Solidarität und Zusammenarbeit, ist Franziskus überzeugt. Dabei denkt er ein inklusives Gesellschaftsmodell. Das bedeutet, alle sind beteiligt. Er kritisiert, wo er das nicht verwirklicht sieht, wenn etwa die sozialen Volksbewegungen aus seiner Sicht nicht ernst genommen werden. »In einigen kleinkarierten und monochromatischen Wirtschaftstheorien scheinen zum Beispiel die Volksbewegungen keinen Platz zu finden, welche Arbeitslose, Arbeitnehmer in prekären Arbeitsverhältnissen und viele andere, die nicht einfach in die vorgegebenen Kanäle passen, versammeln« (FT 169).
Nur, wenn jede Stimme zählt, nimmt man Populisten in Politik und Gesellschaft den Wind aus den Segeln und befördert zugleich eine wahre Politik des Volkes, könnte man Franziskus’ Ansatz kurz zusammenfassen. Denn er denkt die Veränderungen, die er fordert, nicht nur von oben: »Wir dürfen nicht alles von denen erwarten, die uns regieren; das wäre infantil. Wir haben Möglichkeiten der Mitverantwortung, die es uns erlauben, neue Prozesse und Veränderungen einzuleiten und zu bewirken. Wir müssen aktiv Anteil haben beim Wiederaufbau und bei der Unterstützung der verwundeten Gesellschaft« (FT 77). »Große Veränderungen werden nicht am Schreibtisch oder in Büros fabriziert« (FT 231), betont Franziskus – verbunden mit dem Hinweis, dass »in dem einen kreativen Plan ein jeder eine wesentliche Rolle [hat], um eine neue Seite der Geschichte zu schreiben, eine Seite voller Hoffnung, voller Frieden und voller Versöhnung«.
Hier kommt der Gedanke des Traums wieder ins Spiel. Franziskus wird mit Sicherheit viel Kritik ernten für das neue Schreiben. Als Marxist wird er bezeichnet werden von den Anhängern einer liberalen Wirtschaftstheorie, als Häretiker von konservativen Christen, weil er Muslime ganz selbstverständlich als Partner sieht und betont, dass Gott alle Menschen liebt, unabhängig von der Religion, ja selbst Atheisten. Utopist werden ihn die nennen, die von der aktuellen Wirtschaftsordnung profitieren auf Kosten der Armen und Ausgegrenzten. Der Papst wird weiter träumen, weil er überzeugt ist: Wer Träume hat, der jagt ihnen nach, damit sie sich erfüllen. Er baut darauf, Mitträumer zu finden für eine geschwisterliche Welt. »Wer fähig ist zu träumen, wird zum Lehrmeister, durch das Zeugnis«, ist Franziskus überzeugt. Einen Anstoß dazu bietet die vorliegende Enzyklika.
______