Название: Geteilt durch Null
Автор: Ted Chiang
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783965090385
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Als es Zeit für das Abendessen war, wurden alle Karren abgestellt und Essen und andere Güter für die hier Wohnenden abgeladen. Die Karrenzieher begrüßten ihre Familien und luden die Bergarbeiter zum Essen ein. Hillalum und Nanni aßen bei Kuddas Familie und genossen ein Mahl aus getrocknetem Fisch, Brot, Dattelwein und Früchten.
Hillalum bemerkte, dass dieser Abschnitt des Turmes einer kleinen Stadt glich, die sich zwischen zwei Straßen erstreckte – den auf- und abwärts verlaufenden Rampen. Es gab einen Tempel, in dem die Festtage begangen wurden; es gab Richter, die Streitigkeiten regelten; es gab Geschäfte, die von den Karawanen beliefert wurden. Stadt und Karawane waren aufeinander angewiesen: Keines konnte ohne das andere bestehen. Und doch war jede Karawane im Grunde eine Reise, etwas, das an einem Ort begann und an einem anderen endete. Diese Stadt war niemals als feste Einrichtung gedacht gewesen, sie war lediglich Teil einer Jahrhunderte währenden Reise.
Nach dem Essen fragte Hillalum Kudda und seine Familie: »Hat einer von euch jemals Babylon besucht?«
Kuddas Frau, Alitum, antwortete: »Nein, warum sollten wir? Es ist ein langer Weg, und alles, was wir brauchen, haben wir hier.«
»Wollt ihr nicht einmal euren Fuß auf den Erdboden setzen?«
Kudda zuckte mit den Schultern. »Wir leben an der Straße zum Himmel; unsere ganze Arbeit dient dazu, sie auszubauen. Wenn wir den Turm verlassen, dann über die Rampe nach oben, nicht nach unten.«
Während die Bergarbeiter ihren Aufstieg fortsetzten, kam schließlich der Tag, an dem der Turm denselben Anblick bot, ob man über den Rand der Rampe nun nach oben blickte oder nach unten. Nach unten hin verlor sich der Rumpf des Turmes im Nichts, lange bevor er die Ebene zu erreichen schien. Umgekehrt waren die Bergarbeiter allerdings auch noch weit davon entfernt, die Spitze des Turmes erkennen zu können. Alles, was zu sehen war, war ein Teilstück des Turmes. Hinauf- oder hinabzublicken war furchterregend, denn sie hatten jeglichen Bezug verloren; sie waren nicht länger ein Teil des Erdbodens. Der Turm hätte ein Faden in der Luft sein können, weder mit Erde noch Himmel verbunden.
Während jener Zeit gab es Augenblicke, in denen Hillalum verzagte, sich fehl am Platze und der Welt entfremdet fühlte; es kam ihm vor, als hätte die Erde ihn aufgrund seines Unglaubens zurückgewiesen, während der Himmel sich weigerte, ihn aufzunehmen. Er sehnte sich nach einem Zeichen Jahwes, auf dass er die Menschen wissen lasse, dass er ihr Unternehmen guthieß; wie sonst könnten sie an einem Ort bleiben, der dem Geist so wenig Nahrung gab?
In dieser Höhe waren die Turmbewohner mit ihrem Schicksal völlig im Reinen; stets grüßten sie die Bergarbeiter freundlich und wünschten ihnen Glück bei ihrer Aufgabe am Himmelsgewölbe. Sie lebten inmitten der klammen Wolkennebel, sahen Stürme von oben und unten, ernteten Obst und Gemüse aus der Luft und fürchteten nie, dass dieser Ort für Menschen unangemessen sein könnte. Ihr Leben war bar göttlicher Versprechen und Ermunterungen, und dennoch waren ihnen Zweifel fremd.
Im Laufe der Wochen kamen sie dem höchsten Punkt, den Sonne und Mond erreichten, jeden Tag immer näher und näher. Der Mond tauchte die Südseite des Turmes in seinen Silberschein und leuchtete, als starre das Auge Jahwes sie an. Alsbald befanden sie sich auf einer Ebene mit dem Mond, wenn er seine Bahn zog; sie hatten die Höhe des ersten Himmelskörpers erreicht. Verwundert blinzelten sie ihm in sein narbiges Gesicht, staunten über das würdevolle Fortschreiten dieser Kugel, die jeglichen Halt verschmähte.
Dann näherten sie sich der Sonne. Es war Sommer, und so schien die Sonne fast über Babylon zu stehen, und sie kam dem Turm immer wieder sehr nahe. In diesem Bereich des Turmes lebten keine Familien, und es gab auch keine Balkone, da die Hitze stark genug war, um Gerste zu rösten. Der Mörtel zwischen den Steinen bestand nicht länger aus Pech, das weich und flüssig geworden wäre, sondern aus Tonerde, die von der Hitze buchstäblich gebacken worden war. Zum Schutz vor den Tagestemperaturen waren die Säulen hier breiter, bis sie fast eine durchgehende Mauer bildeten, welche die Rampe in einen Tunnel einschloss, nur mit schmalen Schlitzen versehen, die den pfeifenden Wind und goldene Lichtklingen hindurchließen.
Bisher hatten sich die Karrenzieher ihren Tagesablauf einigermaßen regelmäßig eingeteilt, doch nun war eine Änderung vonnöten. Jeden Morgen machten sie sich ein wenig früher auf den Weg, um ihr anstrengendes Werk möglichst bei Dunkelheit zu verrichten. Als sie sich mit der Sonne auf einer Höhe befanden, gingen sie nur noch nachts weiter. Tagsüber versuchten sie zu schlafen, nackt und in der heißen Brise schwitzend. Die Bergarbeiter machten sich Sorgen, dass sie, wenn sie denn überhaupt Schlaf fanden, vor Hitze gar nicht mehr aufwachen würden. Doch die Karrenzieher hatten diese Wegstrecke viele Male zurückgelegt und nie auch nur einen Mann eingebüßt, und schließlich ließen sie die Sonne unter sich zurück, und alles war wieder wie vorher.
Das Tageslicht schien nun aufwärts, was über die Maßen unnatürlich wirkte. Von den Balkonen hatte man einzelne Bretter entfernt, sodass das Sonnenlicht durch die Schlitze auf die Erde scheinen konnte, die man dazwischen aufgehäuft hatte. Die Pflanzen wuchsen seitwärts und nach unten, reckten sich den Sonnenstrahlen entgegen.
Dann näherten sie sich der Höhe der Sterne, kleinen, feurigen Kugeln, die überall am Himmel verstreut waren. Hillalum hätte erwartet, dass sie dichter beieinanderliegen würden, doch obwohl es viele kleinere Sterne gab, die von der Erde aus nicht zu erkennen waren, schienen sie ihm hier dünn gesät. Die Sterne befanden sich nicht alle auf einer Höhe, sondern begleiteten sie lange Zeit auf ihrem Weg nach oben. Es war schwer zu sagen, wie weit weg sie waren, da es keinen Vergleich für ihre Größe gab, doch hin und wieder glitt einer von ihnen dicht an ihnen vorbei und stellte dabei seine erstaunliche Geschwindigkeit unter Beweis. Da wurde Hillalum klar, dass alle Himmelskörper sich so schnell über das Firmament bewegten, denn sonst hätten sie die Strecke von einem Rand der Welt zum anderen nicht an einem Tag zurücklegen können.
Tagsüber war das Blau des Himmels weit blasser, als es von der Erde aus den Anschein hatte, ein Anzeichen dafür, dass sie sich dem Himmelsgewölbe näherten. Wenn Hillalum den Himmel genauer betrachtete, stellte er zu seiner Verblüffung fest, dass die Sterne am Tage zu sehen waren. Von der Erdoberfläche aus konnte man sie gegen den grellen Schein der Sonne nicht erkennen, doch hier oben zeichneten sie sich deutlich ab.
Eines Tages kam Nanni auf ihn zugeeilt und sagte: »Ein Stern ist in den Turm eingeschlagen!«
»Was!« Hillalum sah sich panisch um, als ob ihm jemand einen Schlag versetzt hätte.
»Nein, nicht jetzt. Das ist schon lange her, mehr als ein Jahrhundert. Einer der Turmbewohner erzählt die Geschichte gerade – sein Großvater war dabei.«
Sie begaben sich in die Korridore im Turm und stießen auf einige Bergarbeiter, die sich um einen verhutzelten alten Mann geschart hatten. »… steckte in der Mauer fest, etwa eine halbe Meile über uns. Ihr könnt immer noch die Scharte sehen, die er hinterlassen hat; wie eine riesige Pockennarbe.«
»Was ist mit dem Stern geschehen?«
»Er brannte und zischte und war so hell, dass niemand ihn ansehen konnte. Es wurde erwogen, ihn herauszubrechen, damit er weiter seine Bahn ziehen konnte, aber er war zu heiß, um sich ihm zu nähern, und man wagte es nicht, ihn zu löschen. Wochen später hatte er sich abgekühlt und war zu einem Klumpen schwarzen Himmelsmetalls geworden, so groß, dass ein Mann kaum die Arme um ihn legen konnte.«
»So groß?«, sagte Nanni, die Stimme voller Ehrfurcht. Wenn Sterne von selbst vom Himmel fielen, fand man manchmal kleine Klumpen СКАЧАТЬ