Die Klasse. Hermann Ungar
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Название: Die Klasse

Автор: Hermann Ungar

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788726619041

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СКАЧАТЬ Witwe, haha«, rief Bobek und seine Hände patschten auf die Schenkel. »Frisch, wie ein Apfel! Dir steigen noch die Männer nach auf der Straße, Mathilde! Weißt du, was sie sich heute gekauft hat, Blau? Das Wasser läuft einem im Mund zusammen . . .«

      Er erhob sich ächzend und ging auf das Regal zu, das zwischen den Fenstern stand. Die Gläser auf der Kommode klirrten unter seinem Schritt. Auf dem Regal lag ein kleines, in Papier eingeschlagenes Päckchen. Er öffnete es sorgfältig und entnahm ihm mit den Spitzen von Zeigefingern und Daumen ein rosarotes seidenes Wäschestück, das er hochhob, daß es sich entfaltete und vor seinem Körper niederhing. Es war ein spitzenbesetztes, tief ausgeschnittenes Frauenhemd.

      »Ach nicht doch«, sagte die Mutter mit schmollend gespitzten Lippen.

      »Wie niedlich«, sagte Onkel Bobek, »wie niedlich!« Sein Blick ging vom Hemd zur Mutter und wieder zum Hemd zurück.

      Josef Blau erhob sich.

      »Hör auf!« sagte er.

      Er fühlte, daß er diesen Anblick nicht ertragen würde. Onkel Bobek hörte ihn nicht. Er schaukelte wie eine dicke bärtige Balletteuse vor dem Fenster hin und her. Er hielt das Seidenhemd an den Fingerspitzen in Halshöhe vor den Leib. Das Fleisch des Doppelkinns lag auf den zarten Spitzen des Halsausschnitts.

      »Wie niedlich«, wiederholte Onkel Bobek, »wie niedlich!« Er lächelte lüstern. Die Mutter hatte den Kopf gleich einem schamhaften Mädchen zur Seite geneigt und die Augen niedergeschlagen. Sie verzog den Mund zu einem Schonung heischenden Lächeln. Die Tochter war über die Arbeit gebeugt. Sprang sie nicht auf, dem Onkel das Hemd der Mutter zu entreißen? Konnte sie es ertragen, die eigene Mutter so enthüllt zu sehen, mit deren planvollem Willen so zur Schau gestellt, zur Liebe gerüstet unter dem Panzer ihres Mieders mit Spitzenhemdchen und Höschen? Versank sie nicht in die Erde? Waren sie Mutter und Tochter oder zwei Weiber, durch nichts verbunden als durch den Willen des Geschlechts? Bot die eine die Freuden ihres schlaffen Leibes vor der anderen an, die dieser Leib empfangen und geboren hatte? Verhüllte die andere nicht ihr Antlitz? Schämte sie sich nicht für den eigenen Leib, der gebären wollte? Selma befeuchtete einen Faden zwischen den Lippen und drehte ihn zwischen den Fingern. Sie hielt die Nadel gegen das Licht und zog mit ruhiger Hand den Faden ein.

      Josef Blau wandte sich ab. Er verließ das Zimmer ohne Gruß. Er eilte die Treppe hinab, an dem alten Hämisch, der, die graue Schildkappe tief in die Stirn gezogen, vor dem Haus in der Sonne saß, vorbei auf die Straße. Er eilte, als könne er mit dem beschämenden Anblick, der sich ihm oben geboten hatte, auch der Erinnerung entfliehen. Er wollte den Raum vergrößern, der zwischen ihm und diesem Zimmer lag. Wie Lot auf der Flucht wagte er nicht, sich umzuwenden und hinter sich zu sehen, als verfolgte ihn der fette Bobek, mit dem Spitzenhemd bekleidet, und als könne dieser Anblick ihn, den Lehrer, zu einer Salzsäule erstarren lassen.

      Josef Blau durchquerte die Stadt. Die Hauptstraßen waren voll von Menschen, die ihn anstießen und drängten. Sie stauten sich vor den Auslagen der Geschäfte, in deren großen Glasscheiben sich die Sonne spiegelte. Er bog in eine Seitenstraße ein. Hier glitzerte kein Glas in der Sonne. Die Straße war wie ein enger schattiger Schacht, eingelassen zwischen den Wällen der hohen Häuser. Niemand stieß ihn an. Hier war kein Gewühl von Menschen. Kaum ein Handwerker, ein Weib mit einer Last, ein aus dem Bureau heimkehrender Beamter kam ihm entgegen.

      Er ging weiter ohne Ziel. Er verließ den Umkreis der inneren Stadt und betrat die Wege einer hügeligen baumbepflanzten Anlage. Der Lehrer wich einer Lichtung aus, von der aus die Stimmen spielender Kinder an sein Ohr drangen, begegnete halbwüchsigen Burschen, die Schulmappen tragende Mädchen untergefaßt führten, und Kinderfrauen in bunter ländlicher Tracht mit weitgestärkten weißen Röcken. Josef Blau war müde vom schnellen Gehen und sein Kopf schmerzte. Er wollte sich auf eine Bank setzen, aber auf allen Bänken ringsum saßen Mütter oder Kinderfrauen mit lauten lärmenden Kindern. Er wollte sitzen, den Hut abnehmen, vor sich hinsehen in das braune Laub des Herbstes, in dem Schwärme von Vögeln Nahrung suchten, und in das helle Grün der jungen Blätter an den Zweigen, in das die Vögel aufflatterten, wenn sein Schritt sie verscheuchte.

      Auf einer Bank in der Sonne saß ein weißhaariger Mann mit goldgefaßter Brille. Sein Hut lag neben ihm auf der Bank, die Hände stützten sich auf die Krücke seines aufrecht gestellten Stockes. Als Josef Blau herantrat, sah der alte Mann auf. Josef Blau blickte in ein breites ruhiges Gesicht mit kurzsichtigen Augen, die ihm gelassen entgegensahen. Josef Blau wollte sich zu diesem alten Mann setzen. Er wollte den Hut ziehen und grüßen. Er wollte hier bleiben, bis es dunkelte.

      Hinter der Biegung des Weges wurden Stimmen laut und aus den Büschen, die den Blick versperrten, trat ein Trupp von Schülern mit Büchern unter dem Arm. Josef Blau hörte ihr lautes Gespräch und ihr ungebundenes Lachen. Es konnten Knaben aus seiner Klasse sein. Die Entfernung war zu groß, als daß der Lehrer es hätte erkennen können. Wenn er sich auf die Bank setzte, würden sie an ihm vorbeiziehen. Vielleicht rauchten sie, das Verbot nicht achtend. Josef Blau wollte nicht diese Begegnung, heute nicht und nicht vor dem lächelnden alten Herrn. Sein Kopf war wirr von allem, was heute darin war: der Wechsel, Bobek im Spitzenhemdchen der Mutter und der bedrohliche Ausflug. Josef Blau hatte den Ausflug nicht vergessen. Nun stand die Gefahr, der er begegnen sollte, wieder groß und gegenwärtig vor ihm. Er mußte zu Modlizki. Es ging nicht, es aufzuschieben, es mußte heute sein und jetzt, solange Modlizki zu sprechen war, daß Josef Blau ihm ins Gesicht sah, und ihn nach der Absicht der Schüler fragte.

      Er bog in einen Seitenweg ab, der vor einem hohen Bretterzaun endete. An den Holzplanken dieses Zaunes entlang führte ein schmaler Fußweg. Josef Blau hielt den Blick vom Zaun abgewendet. Er wußte, daß in die Planken Herzen und Namen geschnitten, unzüchtige Bilder und Verse mit Graphit und Kreide an das Holz geschrieben waren. Der Fußweg mündete in eine breite Straße. Josef Blau betrat sie wenige Schritte von dem Haus entfernt, das er aufsuchen wollte. Er sah die Gittertür mit der in den Stein eingelassenen Klingel, die Bäume, die das tief im Park liegende Haus verdeckten, und die weiße nackte Göttin mit lässig erhobenem, über dem Kopf geneigtem Arm, die aus dem grünen Boskett hinter der Gittertür wuchs. Einige Häuser weiter gegen die Stadt zu wohnte der Schüler Karpel. Die Straße war leer, es drang kein Laut aus den Häusern und aus den Gärten. Nur da und dort bellte ein Hund auf, um gleich wieder zu verstummen. Es war vier Uhr. Die Herren schliefen, die Diener schlichen lautlos über die Treppen und Gänge und über den gepflegten Kies der Gartenwege.

      Wenn Josef Blau auf die Klingel drückte, würde die Gittertür surrend aufspringen. Er würde an der lässigen Göttin vorbei um das Boskett schreiten und dann das einfache schloßartige Gebäude mit den grünen Fensterläden und dem runden Toreingang erblicken, zu dem eine breite Steintreppe anstieg. Im Torbogen würde Modlizki stehen, unbeweglich, beunruhigend wie immer, und sich verneigen vor Josef Blau, als sei er, Modlizki, nicht der Einzige in der Stadt, der ihn von damals kannte, als Blau die langärmeligen abgelegten Röcke, Westen und langen Hosen wohltätiger Mitbürger trug. War seine Ehrfurcht Hohn? Würde sie sich nicht plötzlich in überrumpelndes, Gestalt, Antlitz und Stimme entfesselndes Gelächter verwandeln? Josef Blau drückte auf die Klingel. Die Gittertür sprang auf. Als er rund um das Boskett geschritten war, erblickte er Modlizki. Modlizki stand in der Tür, schwarz, mit hochgeschlossener Weste, die sorgfältig geknüpfte weiche Masche wie stets unter dem Kinn. Josef Blau sollte fliehen. Onkel Bobek hatte recht: »Er hat einen bösen Blick«, hatte Onkel Bobek gesagt. »Wenn ich ein Kind hätte, würde ich es vor ihm verbergen.« Aber was wußte Onkel Bobek von ihm? Wer wußte von ihm? Was wußten die Knaben von ihm, an die er sich planvoll herangemacht, hatte, Josef Blau zu vernichten? Modlizki haßte die Ordnung, die als gut und gerecht galt, die Knaben, denen er gefällig war, den Herrn, dem er diente, aber ihn, Josef Blau, sein Weib, sein Kind und alles, was mit Josef Blau zusammenhing, mit einem besonderen Haß. Modlizki wollte vernichten. Daß Modlizki beschränkt war und ohne Bildung und von wirren Ideen besessen, beruhigte nicht. Denn es war doch eine Ordnung in allem, was Modlizki sagte, eine СКАЧАТЬ