Название: Autochthone Minderheiten und Migrant*innen
Автор: Sarah Oberbichler
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
Серия: Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte
isbn: 9783706561075
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2.3 Begründung des Miteinbezugs von Leserbriefen
Neben Berichten, Meldungen, Kommentaren, Interviews, Reportagen, Portraits und Umfragen wurden auch Leserbriefe in das Untersuchungskorpus aufgenommen. Leserbriefe sind – im Unterschied zu den restlichen Textsorten – zumeist von Privatpersonen verfasst, die mit wertenden Äußerungen an die Medienöffentlichkeit treten.218 Trotzdem können sie nicht als Form der direkten Meinungsäußerung verstanden werden, sondern stellen einen bedeutenden Teil der Printöffentlichkeit dar.219 Die Briefe werden redaktionell ausgewählt, wodurch eine selektive Vorauswahl stattfindet. Diese kann mitunter stark vom Interesse der jeweiligen Zeitung gelenkt sein. Publizierte Leserbriefe reflektieren also die Anliegen der Redakteure bzw. der Zeitung, die wiederum bestimmten ideologischen oder politischen Grundsätzen folgt.220
Veröffentlichte Leserbriefe sind typischerweise redaktionell bearbeitet, sprich gekürzt und in einigen Fällen auch stilistisch bearbeitet. Leserbriefschreiber*innen – und das hat sich auch in den beiden Südtiroler Tageszeitungen gezeigt – greifen zudem auf Ausdrücke und Argumentationsstränge zurück, die ihnen aus vorangegangen Nachrichtenmeldungen bekannt sind. Sie kreieren deshalb keine neuen Inhalte, sondern stärken zumeist bereits vorhandene Diskurse. Leserbriefe sind also durch intertextuelle Bezüge gekennzeichnet und nehmen Bezug auf bereits existierende Aussagen.221 All diese Faktoren machen es legitim, Leserbriefe als einen Teil der Medienrealität zu begreifen und in das Korpus aufzunehmen. Werden Zitate aus Leserbriefen in dieser Arbeit wiedergegeben, sind diese stets als Leserbriefe gekennzeichnet. Auch wird klar hervorgehoben, bei wie vielen Texten zu einem Diskurs es sich um Leserbriefe handelt. Gleiches gilt auch für die anderen Textsorten.
2.4 Themenfelder im Korpus Migration und Südtirol
Themen, die in den 1990er-Jahren die Migrationsberichterstattung bestimmten, waren einerseits die Errichtung illegaler Barackensiedlungen in Bozen und andererseits die Ankunft von Flüchtlingen aus Albanien und Ex-Jugoslawien. Zu Beginn der 1990er-Jahre ließen sich Zugewanderten aus Nord-, Zentral- und Südafrika aufgrund des mangelnden Wohnungsangebots in Bozen illegal und in selbstgebauten Siedlungen nieder. Auch wenn es sich lediglich um einige Hunderte Menschen handelte, führten die inhumanen Zustände sowie die politisch kommunizierte Unlösbarkeit ihrer Situation zu einer übermäßigen Medienpräsenz. Ebenfalls bildete die Umsiedlung von Roma-Flüchtlingen und Sinti – die sich ebenfalls in illegalen Barackensiedlungen (den sog. Zigeunerlagern) in Bozen niedergelassen hatten – einen Höhepunkt in der Migrationsberichterstattung der 1990er-Jahren.
Die Ankunft und Aufnahme von Flüchtlingen, die den Kriegen und Umwälzungen in Albanien und Ex-Jugoslawien entflohen, markierte zwischen 1990 und 2000 den zweiten wichtigen Themenschwerpunkt. 1991 wurde Südtirol zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg mit der Aufnahme einer größeren Anzahl von Schutzsuchenden konfrontiert. Es waren jene Menschen, die aus Albanien nach Italien flohen und im Rahmen des staatlichen Asylsystems in ganz Italien verteilt wurden. 1992 folgten Schutzsuchende aus dem ehemaligen Jugoslawien, die aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen ihre Heimat verlassen mussten. Die geplante staatliche Zuweisung von weiteren Menschen aus dem Kosovo im Jahr 1999 fand ebenfalls ein breites Echo in den Tageszeitungen, auch wenn die Zuweisung schließlich nicht zustande kam. Während die Migrantinnen und Migranten in den Barackensiedlungen mit überwiegend negativen Schlagzeilen etikettiert wurden, gab es für Flüchtlinge in den 1990er-Jahren mehr Verständnis und Hilfsbereitschaft – mit Ausnahme der Roma-Flüchtlinge aus Mazedonien, die in sogenannten Zigeunerlagern Unterkunft gefunden hatten.
2002 waren Saisonarbeitskräfte aufgrund fehlender Kontingentzuweisungen ein wichtiges Gesprächsthema in Südtirol, aber lediglich die deutschsprachige Dolomiten berichtete regelmäßig über die einzelnen Umstände. Dies lag nicht zuletzt daran, dass Gastarbeiterinnen und -arbeiter in den Bereichen Tourismus und Landwirtschaft dringend gebraucht wurden, beides Sektoren, in denen vorwiegend Deutschsprachige tätig waren und sind. Die italienischsprachige Bevölkerung arbeitete und arbeitet hingegen eher in der Industrie.
In der Alto Adige hingegen bildete das neu erlassene Bossi-Fini Gesetz die Grundlage für eine breite Debatte um illegale Migrant*innen, den sogenannten clandestini. Zurecht kann hierbei von einer Korrelation zwischen einem politischen Ereignis und der Migrationsberichterstattung gesprochen werden. Darüber hinaus hatte die steigende Anzahl von Menschen mit ausländischem Pass die Medienaufmerksamkeit auf sich gezogen. Sowohl der freie Zugang zum italienischen Arbeitsmarkt als auch das freie Niederlassungsrecht in der EU für Menschen aus der Slowakei (2006) sowie Rumänien und Bulgarien (2007) hatten zu einem deutlichen Zuwachs von Menschen anderer Herkunft geführt.
Debatten um Integration, Wohnbauförderung sowie Moscheebauten dominierten zwischen 2006 und 2009 die Berichterstattung beider Tageszeitungen. All diese Themen fanden aufgrund von Wahlkampfaussagen wichtiger deutschsprachiger und italienischsprachiger Parteien (Südtiroler Volkspartei, Freiheitlichen, Lega Nord) ihren Weg in die Tageszeitungen. So hatten in der Alto Adige beispielsweise die Parlamentswahl 2006, die Landtags- und Parlamentswahl 2008 sowie die Europawahl 2009 deutlichen Einfluss auf die Präsenz von oben genannten Migrationsthemen. In der Dolomiten schien hingegen lediglich die Landtagswahl 2008 die Migrationsberichterstattung zu beeinflussen. Während lokale Wahlen sich also auf den Migrationsdiskurs beider Tagblätter auswirkten, war dies bei nationalen oder gesamteuropäischen Wahlen nicht der Fall.
Nicht mit regionalen bzw. nationalen Wahlen, sondern mit der Verabschiedung des Landesgesetzes Integration ausländischer Bürgerinnen und Bürger im Jahr 2011, ging eine weitere öffentlich geführte Debatte über Integration einher. Darüber hinaus erregte die Ankunft von Flüchtlingen als Folge des Arabischen Frühlings die mediale Öffentlichkeit. Das Thema Integration kam zum letzten Mal im Jahr 2013 auf die Tagesordnung, diesmal im Rahmen der Stopp der Gewalt-Debatte der Dolomiten, die sich gegen Übergriffe von Eingewanderten richtete und auf einer hochemotionalen Ebene geführt wurde. Ab 2014 wurden zudem Flüchtlinge aus Asien, Afrika und dem Nahen Osten zu einem Dauerthema in beiden Tagblättern.
Natürlich gab es auch Sachverhalte, die durchgehend eine wichtige Rolle spielten. Dazu gehörten die Fragen nach der Unterbringung von Zugewanderten und Flüchtlingen sowie die Gewalt- und Kriminalitätsberichterstattung (darunter auch Illegalität): beides Themen, denen in den 25 Untersuchungsjahren unverhältnismäßig viel Raum zugesprochen wurde.
3. Methodischer Rahmen
3.1 Auswertungsmethoden: Die vergleichende diskurshistorische Argumentations- und Inhaltsanalyse
Um die der Arbeit zugrundeliegenden Forschungsfragen beantworten zu können, ist die Kombination von mehreren Methoden notwendig. Die wichtigste Säule bildet die vergleichende diskurshistorische Argumentationsanalyse, die es ermöglicht, beide Tageszeitungen, unabhängig ihrer sprachlichen Realisierung nach Mustern und Schemata über einen langen Zeitraum hinweg, zu untersuchen. Vorbild für die methodische Auswertung waren Martin Wengelers praxisnahen Arbeiten, der – zur Düsseldorfer Schule der Diskursanalyse angehörig – eine Reihe von Argumentationsmustern für den Migrationsdiskurs formulierte. Diese Methode ermöglicht es, Strukturen und Muster von expliziten und impliziten Argumentationen zu analysieren und über eine längere Zeitspanne СКАЧАТЬ