Название: Mörderische Ostsee
Автор: Claudia Schmid
Издательство: Автор
Жанр: Триллеры
isbn: 9783839267707
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So viele Fremde kamen ins Land, aus Ländern, die nichts mit Europa zu tun hatten. Als ob hier nicht schon genug Menschen lebten. Zumindest für ihren Geschmack. Sie hatte sich extra für einen Job entschieden, in dem es für sie keinerlei Kundenkontakt gab. Es reichte ihr völlig aus, sich ihr Büro mit einem Kollegen teilen zu müssen. Dies reizte ihre soziale Kompetenz vollends aus. Mehr Berührungspunkte zu anderen brauchte sie weiß Gott nicht in ihrem Alltag. Sie trennte Berufliches und Privates strikt. Oft erfand sie eine Ausrede, um nicht an der täglichen Fika teilnehmen zu müssen. Die Kaffeepause mit Süßem war den meisten ihrer Kollegen heilig. Auch in dieser Hinsicht ähnelte sie ihrem Vater, wie in so vielem anderen. »Du bist wie sein Zwilling, nicht wie sein Kind«, hatte die Mutter oft bemerkt. Sie selbst hatte dies immer für einen Scherz gehalten. Aber es war die Wahrheit. Sie waren sich derart ähnlich, dass sie sich mit zunehmendem Alter eher wie sein Klon als sein Kind fühlte. Ihre Mutter hatte sich genetisch bei ihr nicht durchzusetzen vermocht. Lag es daran, dass sich die Mutter, seit sie denken konnte, immer seinen Wünschen anpasste? »Papakind« war einer von ihren nettesten Ausdrücken für sie gewesen. Wie lange hatte sie sie eigentlich nicht mehr gesehen? Besaß sie überhaupt ihre aktuelle Adresse?
Die Fremden hielten sich nicht immer an die Gepflogenheiten hier. Musste sie sich sorgen? Würde an Mittsommer eine Horde Betrunkener an ihrer Insel anlegen und sie erstürmen? Sollten sie nach Plätzen suchen, um ihren Flüssigkeitsüberschuss wieder loszuwerden, würden sie über die gesamte Insel stromern. Darin lag eine große Gefahr, Vaters Geheimnis zu lüften. Das konnte sie nicht dulden. Letztendlich würde es auf sie zurückfallen. Nichts davon gewusst zu haben, würde ihr niemand abkaufen. Und es war ja so, dass sie Bescheid wusste. Von Beginn an. Bis zum Ende.
Sie bemerkte selbst an sich, wie sie von Tag zu Tag unruhiger wurde. Schon ein paar Einladungen von Kollegen zum Shrimps-Essen und Champagner-Trinken hatte sie für Mittsommer ausgeschlagen. Das Beste würde sein, sie meldete sich bereits am Abend vorher im Büro krank und verbrachte den riskanten Tag in ihrem roten Holzhaus auf den Schären. Im Haus befand sich eine alte Waffe des Großvaters. Ihr Vater hatte irgendwann einmal, auf welchen Wegen auch immer, Munition dafür besorgt. Sie stellte sich vor, dass es nicht allzu schwer sein konnte, zu schießen. Ein Schuss wäre durchaus ein wirksames Mittel, um Fremde vom Anlegen abzuhalten. Diese Vorstellung vermochte sie ein wenig zu beruhigen. Noch heute würde sie Ballistol kaufen, um die Waffe zu reinigen. Dies hatte ihr der Vater neben vielem anderem beigebracht. Er war unumschränkt die wichtigste Person in ihrem Leben. Keiner der Männer, mit denen sie sich von Zeit zu Zeit einließ, konnte auch nur annähernd an ihn heranreichen.
*
Als sie am nächsten Tag aus dem Haus gingen, lugte Edelgard hinüber, wo die Frau am Abend zuvor so flink vom Balkon in die Wohnung gehuscht war. Sosehr sie sich bemühte, sie konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken. Außer, dass an besagtem Fenster die Jalousien geschlossen waren. Was im Vergleich zu den anderen Fenstern in der Gegend ziemlich ungewöhnlich war.
»Was ist denn da drüben, Mom?«
»Nichts.«
»Für ›nichts‹ guckst du aber ziemlich neugierig.«
Edelgard verzichtete auf eine Antwort. Manches Mal verstand es ihr Sohn vorzüglich, sie zu nerven. Mit der Annahme, nach der Pubertät wäre es damit vorbei, hatte sie sich wohl getäuscht.
Julian führte sie über eine Brücke zur Altstadt Stockholms Gamla Stan. Die befand sich auf einer eigenen Insel. Edelgard zeigte sich beim Durchschlendern schnell begeistert von den schönen Plätzen und den Gassen mit ihren hübschen Häusern und vielen Läden.
»Da muss ich rein!«, rief sie Julian und Norbert zu und verschwand in einem Hutgeschäft. Sie interpretierte das reizende Schaufenster als persönliche Einladung an sie, das Geschäft zu betreten. Ein Hut aus Filz erweckte sofort ihre Aufmerksamkeit. Er war geformt wie ein Topfhut aus den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts, die gemeinhin als die Goldenen bezeichnet werden. Lila, mit verschiedenenfarbigen Federn darauf drapiert. Edelgard war komplett hingerissen von dem ausgefallenen Exemplar.
»Ich habe ein Hutgesicht, gell, Norbert?«, sagte sie um Bestätigung heischend zu ihrem Mann, während sie sich glücklich von allen Seiten in dem mehrteiligen Spiegel betrachtete.
»Du siehst damit aus wie ein schwedisches Blumenhuhn.«
Norberts Humor war mal wieder unschlagbar. Blumenhühner waren eine besondere schwedische Art dieser Tiere, das wusste sie wohl. Sie trugen den Namen, weil ihr Gefieder besonders bunt war. Edelgard verzog keine Miene, zückte ihre Kreditkarte und erwarb den Hut. Ganz sicher würde sie sich den Kauf nicht von ihrem Mann verderben lassen! Männer und Shopping. Da prallten zwei Welten aufeinander.
»Den nehme ich mit auf meine nächste Chor-Reise. Alle werden von mir wissen wollen, wo ich ihn herhabe.«
»Pass bloß auf, dass du damit keinen Tierschützern begegnest. Du gerätst mit dem Ding auf dem Kopf in Verdacht, eigens ein Huhn dafür gerupft zu haben.«
Edelgard ignorierte den Einwand ihres Mannes und nahm mit einer würdevollen Handbewegung ihre Papiertüte entgegen.
Vor der nächsten Schaufensterauslage drückte Norbert sich die Nase platt. Bunte Süßigkeiten lagen dort ausgebreitet. Zuckerstangen und Bonbons in allen Farben ergaben ein optisches Potpourri. Aus der leicht geöffneten Ladentür strömte ein verlockender Duft nach Lakritze und Vanille. Wie von unsichtbaren Fäden eines Puppenspielers gezogen schritt Norbert mit verklärter Miene in das Geschäft. Tatsächlich lag in seiner Gangart etwas von einer willenlosen Marionette. Sein Gesicht zeigte den Ausdruck puren Entzückens. Die hölzerne Ladentheke mit ihren vielen Gläsern erinnerte an einen alten Tante-Emma-Laden. Norbert war in seinem Element und orderte kräftig bei der freundlichen Verkäuferin, die Englisch sprach.
»Das trägst du jetzt den ganzen Tag mit dir herum?«, zog ihn Edelgard auf, als diesmal er die volle Papiertasche an sich nahm.
»Bis abends ist sie bestimmt leichter geworden«, kommentierte Julian, dem die Naschsucht seines Vaters bestens bekannt war, und griff selbst flink nach einer Zuckerstange. Genießerisch wickelte er sie aus und steckte sie sich in den Mund. »Wir müssen unbedingt zum Balkon!«
»Balkon? Den haben wir doch in deiner Wohnung«, fragte Norbert erstaunt.
Julian lachte. »Damit ist eine Aussichtsplattform gemeint, von der man einen der besten Blicke auf Stockholm hat. Ihr werdet schon sehen! Paps, gib die Tüte her. Ich trage sie für dich.«
»Damit sie leer ist, wenn ich sie zurückbekomme?«
»Vertraust du mir nicht?«, fragte Julian in gespielter Empörung. »Ich will lediglich, dass du nicht so schwer tragen musst.«
»Wie aufmerksam, nein, kaum zu überbieten, mein Sohn!« Norbert umklammerte die Tüte und machte keinerlei Anstalten, sie Julian auszuhändigen.
Edelgard genoss das Geplänkel zwischen »ihren beiden Männern« und spazierte, die Tasche mit ihrem neu erworbenen Hut am Arm, zufrieden hinter den beiden her.
Sie stimmte Julian voll und ganz zu. Die Aussicht vom Fjällgatan war wirklich spektakulär. Fand Edelgard zumindest. Sie folgte mit ihren Blicken dem ausgestreckten Arm ihres Sohnes.
»Dort liegt Djurgården. Da müssen wir unbedingt hin.«
»Was gibt es dort zu sehen?«
»Die Vasa, ein spektakuläres Schiff. Extra СКАЧАТЬ