Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart. Группа авторов
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СКАЧАТЬ virulenten Projekts sei hier noch kurz erwähnt, da er vieles von den elementaren Ängsten und Aggressionen umfasst, die gegenwärtig wieder aufgebrochen sind, sodass das politische Bemühen um eine „Willkommenskultur“ erneut nur als eine dünne, fragile Schutzschicht neoliberaler Demokratien erscheint.9

      Zur Realität der damaligen Nachwendezeit gehörten bald, im Sommer 1991, die schockierenden Bilder von massenhaft aus den ärmsten Staaten des zerfallenden Ostblocks fliehenden Menschen. So benutzten die mit Fotos von Terroropfern oder sterbenden Aidskranken erfolgreichen „United Colors“-Kampagnen der Modefirma Benetton auch Bilder des Frachters Vlora, der Anfang August 1991 rund 10.000 Flüchtlinge vom albanischen Hafen Durres nach Bari in Italien schleppte. Dass Schleef diese Entwicklung verfolgt hat, legen Zeitungsausschnitte nahe, die sich in den Mappen der damals entstandenen Entwürfe finden: eine Meldung über den „Antragsstau“ und eine ungeklärte Brandstiftung in einer Berliner Flüchtlingsunterkunft, oder der Bericht vom Untergang zweier Flüchtlingsschiffe. Daneben sind Notizen von Müller-Schwefe erhalten, der ein neues Stück Die Asylantinnen, nach Aischylos’ Schutzflehenden entwirft und mit Bezug auf die verlorenen Teile der Danaiden-Trilogie kommentiert: „Die Asylfrage wird auch damals nicht durch schöne Worte und gute Taten gelöst, sondern – symbolisch und handgreiflich – durch Druck und Drohung.“10

      Im Sommer 1992 wurde in Zusammenhang mit dem Beginn des neuen Leitungs-Teams am Berliner Ensemble von Schleef das Projekt eines Vierteilers angekündigt unter dem Titel: „Arbeiter, Soldaten, Bauern, Asylanten“.11 Vorgesehen war eine Montage aus Die Weber von Gerhart Hauptmann, Stadt der Gerechten von Lew Lunz, Die Bauern von Heiner Müller und Die Schutzflehenden von Aischylos. Dass Schleef das Danaiden-Stück seit Mitte der 1980er Jahre kannte, ist anzunehmen, denn schon für das Mütter-Projekt plante er einen Chor von 50 bis 100 Jungfrauen, den es in keiner anderen der erhaltenen Tragödien gibt. Andererseits war sein Blick auf griechische Tragödien Anfang der 90er Jahre, mit dem Aufbrechen aller Konflikte der deutschen Geschichte im Moment der erhofften Wiedervereinigung, noch stärker von einer katastrophalen Gegenwart entzündet, zu der auch die brennenden Häuser und Wohnheime von Hoyerswerda (1991), Mölln und Rostock-Lichtenhagen (1992) sowie Solingen (1993) zählten. Damals wurde bereits deutlich, dass die nach der Wende ansteigenden Frustrationen und Ängste von Benachteiligten in West- wie in Ostdeutschland in rassistischen Anschlägen gegen Fremde und Asylanten eskalierten.

      Das große Chorprojekt Arbeiter, Soldaten, Bauern, Asylanten konnte Schleef nicht verwirklichen. Zugunsten der Arbeit an Rolf Hochhuths Wessis in Weimar und des Kampfes um die erneute Faust-Inszenierung an dem vor der Schließung stehenden Schillertheater wurde es 1992/93 abgebrochen. Aus dieser Zeit sind aber immerhin Vorstudien und Pläne erhalten, ausgehend von einer Übersetzung von Aischylos’ Hiketiden.12 Offenbar interessierte Schleef sich bei der Montage der vier genannten Texte von Anfang an für die verschiedenen Sprachen der jeweiligen Gruppen. Er begann mit Strichfassungen, die Hauptmanns Weber in Dialektversion auf die Kneipenszene im 3. Akt und den Schluss beschränkten. Den Lunz-Text (über die Soldaten der Oktoberrevolution, die in der Wüste eine Stadt der Gerechtigkeit finden und zerstören) sah er als Beispiel für „kurze Umgangssprache“. Müllers Bauern wollte er selbst in thüringischen Dialekt bringen („alles SED-feierliche weg“) und die Asylanten nach Aischylos seien Hochdeutsch, in Annäherung wiederum an die Klagelaute der griechischen Tragödie. „Könnte eine richtige Spracharbeit werden“,13 in der jeweiligen Konfrontation der Sprachen, Klassen und Geschlechter. „Am brutalsten gelöst“ sei der Zusammenstoß Mann/Frau bei Aischylos, wie ein Schema zum vierten, auf die Danaiden bezogenen Teil zeigt:

      Kaum ist der Boden geräumt und der Rohbau fertig, stehen andere davor und wollen rein. Die vor der Tür sagen, wir sind mit euch verwandt, aber wir wollen nicht wie ihr werden. Die hinter der Tür sagen, daß ihr mit uns verwandt seid, daran können wir uns, wenn es unbedingt nötig ist, erinnern, trotzdem, ihr müßt erst werden wie wir, dann könnt ihr auch hier rein und mit uns leben. Da die vor der Tür Frauen und hinter der Tür Männer sind, krachts, es bleibt nur Asche und in der Sage ein großer Held.14

      Als eigenen Text sah Schleef in diesem Vierteiler vor allem den Asylanten-Chor, der vermutlich schon 1989 entstanden war. Zumindest diesen Chortext konnte er später doch noch zur Aufführung bringen, am Schluss seiner Inszenierung Wilder Sommer nach Goldonis Trilogie der Sommerfrische am Wiener Burgtheater (1999). Die letzte Szene (II/24) war zunächst so konzipiert, dass nach dem Streit zwischen Vater (Bernardino) und Sohn (Bruno), während die wohlhabenden Urlauber noch auf das versprochene Schiff warten, schließlich ein Sturm aufzieht und das Schiff plötzlich „in die Szene“ kracht: „Die Schiffsinsassen kriechen hervor / sammeln sich wie die ersten Menschen“.15 In der Aufführung wurde das Bühnenbild der letzten Szene unvermittelt von Mitgliedern des Chores gestürmt, die panisch nach vorne rennen. Sobald sie zu sprechen beginnen, wird es dunkel und für etwa drei Minuten ist nur der Asylanten-Text zu hören. Nachdem das Saallicht angeht und der Chor vor dem mit einem Himmel bemalten Vorhang ganz nah am Publikum steht, wird ein Epilog gesprochen, der den raschen Untergang des Schiffes und damit des „großen Glückes“ beklagt. Der Schluss des Entwurfs mit einer abschließenden „Menschen-Jagd“ lässt vermuten, dass Schleef auch hier mit den Asylanten als dem eigentlichen Personal eines Theaters der Tragödie noch viel mehr geplant hatte, womöglich eine Ausweitung der Perspektive, die auch die Zuschauer zugleich als Urlauber und Asylanten, Einheimische und Fremde, Täter und Opfer, Männer und Frauen, Spekulanten und Ausgebeutete, Voyeure und Betroffene adressiert hätte.

      Auch in dieser Inszenierung erschien der Chor, wie Schleef es in Droge Faust Parsifal als Grundprinzip der Tragödie beschreibt, ausgestoßen, heimatlos, Asyl einfordernd. Mit seiner Formel für die Haltung der Danaiden hat Schleef also nicht nur den ethischen Konflikt einer notwendigen Überforderung der aufnehmenden Gesellschaft auf den Punkt gebracht, sondern zugleich die rituelle Wirksamkeit von Hikesie als Performance eines Chors im Theater. Ob diese Impulse weitergewirkt haben? Die bei Schleef stets auch politisch relevante Funktion von Chören, den Konflikt mit solistischen Schauspielern und zugleich mit dem Publikum hervorzurufen, wurde in den letzten Jahren aufgegriffen, oft aber nur mit dem äußerlichen Effekt einer mehr oder weniger virtuosen Selbstbehauptung von Darstellergruppen. Dabei fehlte die Spannung, die in Schleefs Arbeiten gerade aus der Konfrontation mit der biographischen Erfahrung von Flucht und Fremdheit resultierte. Vermittelt über Christine Groß, die bei vielen Schleef-Produktionen selbst beteiligt war, fand der tragische Chor allerdings noch ein ganz anderes Asyl – in den Splatter-Comedies von René Pollesch.16 Anfang 2019, da wäre Schleef 75 geworden, gab es am Berliner HAU das von Groß geleitete Chorprojekt Tarzan rettet Berlin, in dem ein Chor aus nicht binär-geschlechtlichen AkteurInnen schließlich auch den Geschlechterkrieg vorübergehend außer Kraft setzte, mit Texten aus Schleefs Tagebüchern.

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