Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart. Группа авторов
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СКАЧАТЬ immer wieder durchgespielt hat.3

      Nicht selten manifestieren die Texte der Tragödien, wie mythische Ordnungen und rituelle Praktiken in rechtlich und politisch geregelte Verfahren überführt werden konnten. Tatsächlich wurde der Umgang mit Schutzflehenden, aus der jeweiligen Stadtgesellschaft wie auch für Fremde, im 5. Jh. v. Chr. allmählich institutionalisiert. Strukturell ist für diese Entwicklung zu unterscheiden zwischen dem von der Hikesie ausgelösten „sakralen Asyl“ und einem von der Stadt dem Einzelnen verliehenen Bleiberecht, das als „persönliches Asyl“ bezeichnet werden kann.4 Außerdem konnte es nach einem Aufenthalt von 30 Tagen, insbesondere in Athen den Status der Metoikie geben. Die Metöken, „Mitwohner“, mussten eine/n einheimische/n BürgerIn als ihren Patron benennen und Schutzgeld an die Stadt zahlen. Dafür durften sie Geschäfte ausüben, nicht aber an politischen Debatten und Wahlen teilnehmen. Vermutlich war die für Stadtbürger von Athen verpflichtende, aufwändige Teilnahme an der politischen Praxis nur dadurch aufrechtzuerhalten, dass es – außer den Sklaven, die die eigentliche Arbeit taten – noch diese zusätzliche Gruppe von „Unternehmern“ gab, die für das wirtschaftliche Leben sorgten.5

      Bei Aischylos gehen die Schutzflehenden so weit, zu fordern. So erinnern sie Pelasgos daran, dass er von Zeus bestraft werden könnte, wenn er ihnen keinen Schutz gewährt. Für diesen Fall drohen sie sogar damit, sich selbst zu töten. Dass der ganze Konflikt – in dem das Agieren der Danaiden ebenso wie das ihrer Neffen von Hybris (frevelhafter Selbstüberschätzung) geprägt ist – zugleich als ein politischer Prozess dargestellt wird, lässt sich noch am ehesten durch die besondere Bedrohung auch von Argos durch die ägyptischen Verfolger erklären.6 Der König Pelasgos kann hier gar nicht allein entscheiden, muss die Volksversammlung abstimmen lassen.

      Tatsächlich ist der Text der Schutzflehenden eine der frühesten Quellen für ein solches demokratisches Verfahren in der griechischen Kultur. Die Angelegenheit dieses Asyls ist von elementarer Bedeutung für alle, geht jeden Bürger etwas an.7 Nach auffällig rascher Entscheidung in der Volksversammlung kann Danaos den Frauen aber berichten, dass sie von der Stadt beschützt werden und dass sie – darüber hinaus – auch als Metöken aufgenommen sind.8

      Das Stück endet damit, dass ein zusätzlicher Chor von Mägden die Jungfrauen drängt, ihre Verweigerung der Heirat doch zu überdenken. Die verlorenen Teile der Trilogie enthielten dann, soweit das aus Fragmenten zu erschließen ist, einen Sieg der Ägypter gegen Argos, wobei Pelasgos selbst getötet wird. Daraufhin wird die Heirat von den Danaiden doch noch akzeptiert, allerdings nur zum Schein. In der Hochzeitsnacht töten sie alle ihre Vettern bis auf eine, die ihren Geliebten rettet. Die Heiratsverweigerung der Frauen könnte nachträglich auch dadurch motiviert worden sein, dass von einem Orakel berichtet wird, das den Tod von Danaos durch einen Schwiegersohn vorhergesagt hätte.9 Der dritte Teil der Trilogie zeigte wohl einen Prozess gegen diese eine Frau, Hypermestra, die aber begnadigt wird und als Mutter eine neue Dynastie von Griechen begründet, zu der der Halbgott Herakles gehören wird. Vorausweisend auf die spätere Entwicklung der Tragödie steht damit am Ende der Trilogie das Individuum, das sich gegen eine Mehrheit durchsetzt.

      Für die von Aischylos dargestellte Konsequenz, mit der die religiöse Forderung der Hikesie und die Gewährung eines persönlichen Asyls der Metoikie im politischen Entscheidungsprozess verknüpft werden, ist es von einiger Bedeutung, mit welchen Worten die Volksversammlung der Argiver von Danaos zitiert wird:

      Mitwohner sollen wir des Lands hier sein und frei

      geschützt vor Zugriff, vor dem Raub durch irgendwen;

      Und keiner der Bewohner soll, kein Fremder uns

      Wegführen; sollt es sein, daß man Gewalt gebraucht,

      Soll, wer nicht eilt zu Hilfe von den Bürgern hier,

      Ehrlos sein, Flüchtling, durch des Volks Beschluß verbannt.

      So war das Wort, das, überzeugend sprach für uns

      Pelasgias Fürst […]

      Dies hörte kaum, so hob die Hände Argos‘ Volk

      Und stimmte – ohne Heroldsruf – für den Beschluß.10

      So bewirkt die Rede des Königs Pelasgos, dass die Volksversammlung einstimmig entscheidet. Die dafür gebrauchten rhetorischen Bilder erscheinen besonders wirkungsvoll, da er sich und das Volk von Argos zuvor schon mit einem Schiff von Migranten verglichen hat und nun allen, welche den Schutzflehenden nicht helfen, damit droht, dass sie selber verbannt und in Flüchtlinge verwandelt würden.11

      Annäherungen zwischen Theater und Asyl

      Die theatralische, eigentlich dionysische Umkehrung von Migrant und Gastgeber ist bis heute ein wirksames Mittel, um die Ängste von Gesellschaften zu überwinden, die mit Geflüchteten konfrontiert sind. Tatsächlich gab es in den letzten Jahren einige Produktionen von Aischylos’ Tragödie, welche die Schwierigkeiten der aktuellen Asylpolitik vorführten, indem sie die Hiketiden auf ihren aktuellen Gehalt befragten. Zwei neuere Beispiele seien hier erwähnt, zunächst Enrico Lübbes Inszenierung (Schauspiel Leipzig, Herbst 2015) des Textes Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek, geschrieben mit Bezug auf den realen Konflikt von Flüchtlingen, die 2013 in Wien ein Kirchenasyl erreichen wollten und daraufhin von der Polizei deportiert wurden. An diesem Fall hat Jelinek die Macht bürokratischer Verfahren thematisiert, die den Asylsuchenden auf seine körperliche, aller individuellen Rechte entkleidete Existenz reduzieren. Assoziationen mit dem von Agamben analysierten Phänomen des Homo Sacer waren auch in Lübbes Inszenierung präsent, welche die Relevanz der Texte von Aischylos und Jelinek gerade in ihrer Verknüpfung deutlich machte. Die räumliche Situation war geprägt durch einen großen stählernen Schiffsrumpf. Der Chor der Schutzflehenden verwandelte sich in eine Gruppe von Jelinek-Doubles, dann in eine Masse von Flüchtlingen und schließlich in eine Gruppe Touristen, kostümiert als übergroße Hotdogs, die sich in der Sonne grillen lassen und dabei über die Umweltverschmutzung an den Stränden klagen, die angeblich von Flüchtlingen verursacht sei. Wie schon Jelineks Text spielte die Inszenierung mit dem scharfen Kontrast zwischen pathetischen Bildern von Leiden und Angst und einem Zynismus der Banalitäten.1

      Einen anderen Ansatz verfolgte Sebastian Nübling ebenfalls im Herbst 2015 am Berliner Gorki Theater und ebenfalls ausgehend von Aischylos und Jelinek, darüber hinaus aber von der Asyldebatte in deutschen Parlamenten sowie von persönlichen Erinnerungen einiger Migranten, die bereits dem Gorki-Ensemble angehörten. Die Stühle wurden entfernt und die Zuschauer saßen auf einer Tribüne, während das Parkett des Theaters als Versammlungsraum benutzt wurde. Im weitgehenden Verzicht auf festgelegte Rollen, wenn auch durch körperliche Handlungen auf das Stück verweisend, engagierten sich die Akteure vor allem in einem Reenactment der Debatte über die Gesetze zu Einwanderung und Asyl. Die Aufführung endete mit einer Versammlung aller Zuschauer um die neuen Mitglieder des Ensembles, die somit Gespräche über ihre persönliche Erfahrung von Flucht und Migration aktiv prägen konnten anstatt bloß repräsentiert zu werden. Auf diese Problematik verwies schon der Titel der Produktion: In Unserem Namen.

      Dem Ansatz dieser und weiterer Produktionen am Gorki-Theater entspricht eine noch weiter gehende Tendenz, Theatergebäude selbst in Asyle zu verwandeln, die für jeden Schutzbedürftigen offen sein und zugleich als Treffpunkt dienen sollen für Helfer und Unterstützer. Diese Entwicklung mag notwendig erscheinen zur Öffnung der Repräsentationsstrukturen für Ansätze zur Bewältigung konkreter gesellschaftlicher Konflikte. Andererseits ist Theater einer der wenigen Orte, die nicht darauf verpflichtet werden sollten, soziale und ökonomische Probleme zu lösen oder Mängel der Verwaltung zu kompensieren.2 Wie bei zahlreichen anderen Konflikten hatte in diesem Fall der plötzliche Drang der Theaterhäuser, das Thema Flüchtlinge zu behandeln, СКАЧАТЬ