Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart. Группа авторов
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СКАЧАТЬ nach 14 Jahren Abwesenheit wird Schleef von seiner stark verwahrlosten und verbitterten Mutter angeschrien: „wie du aussiehst […] ich habe nicht nach dir gerufen, was willst du hier“.10

      Das für Schleef bestimmende, traumatische Thema einer andauernden Heimatlosigkeit wird aber auch in seinen Tagebüchern nicht nur durch eigene Erlebnisse veranschaulicht, sondern gleichzeitig in seiner politischen und historischen Dimension betrachtet. Exemplarisch dafür skizziert der Eintrag „Sprache – Sprachwende“ vom 6.3. 2001, der unter anderem auf Florian Havemanns Formulierung „Nur Flüchtlinge sind Deutsche!“ verweist,11 die besondere Situation eines schon lange vor dem Fall der Mauer in die BRD übergesiedelten Republikflüchtigen:

      Die Hybris, aus der DDR zu sein, aber noch den Westen im Ende seiner Glanzzeit erlebt zu haben, ist ein Besitz, den man in der DDR Verbliebenen voraus hat. Wie aus Übermut parliert man in der einen oder in der anderen Sprache, man hantiert geschickt beide Heimaten, wirft die eine gegen die andere, im Wissen, daß man, geht man nach Hause, kein Zuhause mehr hat.12

      Die Kehrseite dieser Kenntnis beider Sprachen ist der Verlust der „eigenen“ Stimme – die Insistenz der „Frage, wer spricht in mir“ und die Erfahrung, dass sich eigentlich überwunden geglaubte, der DDR oder auch der Nazi-Diktatur angehörige Begriffe in das eigene Sprechen hineindrängen.13 Zu der schon von Victor Klemperer zunächst im Rahmen seiner Tagebücher analysierten Eigendynamik von Sprachformeln der Diktatur14 kommt bei Schleef die Erfahrung einer von der Geschichte der beiden deutschen Staaten und von deren gemeinsamer Vorgeschichte im „Dritten Reich“ geprägten Spaltung der persönlichen Identität. Wie in Schleefs Roman Gertrud über seine Mutter ist auch im Durcharbeiten der eigenen Biographie der Faschismus immer wieder präsent. Allerdings, wie schon bei seinen Theaterarbeiten, nicht etwa durch unbewusste oder gar affirmative Wiederholung, eher als Teil einer Selbstanalyse, die zugleich die gesellschaftlichen Befindlichkeiten des vereinigten Deutschlands betrifft. Eben darin liegt, fast zwei Jahrzehnte später, die Aktualität von Schleefs Versuch, am Material eigener Erfahrungen das Thema Asyl zu konkretisieren.

      Asylanten 89 – „Wir bitten nicht, wir fordern“

      Die Rückschau auf die Monate nach dem Fall der Mauer erinnert Schleef an seine eigene Flucht: „Der Osten hatte Berlin überflutet. […] in diesen Menschen sah ich mich selbst, sah mein eigenes In-den-Westen-Kommen.“1 Diese für die Tagebücher entworfenen Beobachtungen markieren den Ausgangspunkt auch für seine Arbeit an einer Asylanten-Tragödie, die heute noch etwas transportiert, was den ambitionierten Versuchen, Stadttheater zu Begegnungszonen mit Geflüchteten zu machen, fehlt. Zunächst ist es die Schärfe der Diagnose eines innerdeutschen Konflikts, der dem aktuellen Asyl-Streit lange vorausging, ihn determiniert hat:

      Die pure Gegenwart dieser Menschen schrie: Es gibt nicht nur euch. Vergeßt das nicht! Mit welchem Haß die Einheimischen die Fremden ihre ergatterte Ware über die Straßen schieben sahen, das konnte ich beobachten, aber genauso, daß diese Fremden, daß ihre Gesichter der Spiegel der Einheimischen waren.2

      Die zwischen Panik und Euphorie schwankende Stimmungslage der beiden plötzlich kollidierenden deutschen Staaten im Sommer 1989 hat sich mit Bildern verknüpft, die eine Art fröhlichen Belagerungszustand zeigen, den Anschein neuer Gemeinschaft. Nach den im Fernsehen weltweit gesendeten Aufnahmen von DDR-Flüchtlingen, die über Felder und Zäune die „offene“ Grenze zwischen Ungarn und Österreich bei Sopron überquerten, waren es die Menschenmassen, die bei den Montagsdemonstrationen den Leipziger Ring buchstäblich fluteten und schließlich auf der Berliner Mauer aufgereiht auch das Brandenburger Tor als Kulisse eines gigantischen Volksfestes erscheinen ließen. Schleefs Blick auf diese Ereignisse vermittelt eine andere, aus heutiger Sicht schärfere Perspektive. Die gewaltlose Gewalt, mit der sich das (in anderer Perspektive von Jacques Rancière thematisierte) „Unvernehmen“3 der unterdrückten Massen plötzlich als Selbstbehauptung „Wir sind das Volk“ entladen konnte, wird bei Schleef bereits als ein Konflikt um Asyl kenntlich.

      Unter dem Datum „August 89“ ordnete Schleef – in einer früheren Version des vierten Bandes der Tagebücher (1981-1998) – den Erfahrungen des anhaltenden Kaufrausches am Bahnhof Zoo seinen Text „ASYLANTEN CHORSZENE“ zu, der die Klagen der Schutzflehenden von Aischylos verdichtet und zuspitzt:

      Wir bitten nicht, wir fordern von euch Wohnung, Brot, Kleidung und Fleisch. Der Gast ist König am Tische des Fremden, König in seinem Bett. Eingedenk, dass euch das träfe, was uns trifft, folgt dem alten Gebrauch. […] Tut ihr es nicht, wir weichen nicht, wir freie, fordern und erwarten nur eins, wenn ihr es nicht gebt, sind wir bereit zu sterben. Eingedenk, ihr würdet Gleiches fordern, von uns oder anderen Völkern, mit denen euch gleiche Bande verknüpfen wie uns mit euch, beten wir für euren Mut, uns zu folgen, wenn keine friedliche Forderung Einlösung erfährt. […] Siegen die anderen, geht es eurem Volk wie uns.4

      Zwar sprechen die Fremden die Sprache der Deutschen, jedoch anders als erwartet, indem sie ihr Gastrecht noch strikter einfordern als bei Aischylos. Die archaische Sprache der Griechen, die schon von ihren jeweiligen Nachbarstädten (Athen, Argos, Theben etc.) immer wieder als barbarische, anderssprechende Ausländer bezeichnet wurden, bildete die Grundlage bereits für die Sprach(er)findung des Mütter-Textes als einem Amalgam aus Wörtlichkeit und freier Aktualisierung.5 Daraus wurde für Schleef später, wie der Text Asylanten 89 zeigt, eine „dritte Sprache“, die zwischen den Sprachen Ost und West vermittelte, aber ohne bloß Synthese oder Kompromiss zu sein, vielmehr mit einer Wucht, welche die Tragödie als Sprache des Asyls im Sinne einer unbedingten Verpflichtung erweist. Was an Aischylos’ Hiketiden auffällt und oft betont wurde,6 ist gerade die Aggression, mit der die Frauen fordern und erpressen. Diese Wut wird für Schleef zum Medium für den elementaren Streit zwischen denen, die schon etwas länger da waren, und denen, die gerade erst ankommen. Durch diesen Gegensatz wird sogar die soziale Differenzierung innerhalb der Geflüchteten, die sich bei Aischylos noch in 50 Frauen und 50 Mägde teilen, aufgehoben. Der Unterschied zu den Einheimischen soll jedoch gewahrt bleiben:

      100 sind wir, einhundert Frauen, Schwester einander, Herrin und Magd. Ohne Unterschied mehr, es gibt keinen. […] Und laßt uns unter uns, verlangt nicht, wir sprechen eure Sprache […] Wir sind Völker verschiedener Länder, das alte Band, was unser Volk und das eure verbindet, ist alt und nicht jeder weiß es. Alt, heißt in den Büchern suchen, die lange gelebt haben, können es wissen, wie unser Vater es weiß. Wir wollen nicht bücken, dienen und plagen, wir wollen wohnen und essen und unser eigenes Volk sein.7

      Das überlieferte Wissen der verwandten Abstammung wird, obwohl es doch ein besonderes Argument der Danaiden bei ihrer Asylforderung ist, relativiert durch die aktuelle Weigerung, sich durch Anpassung unterzuordnen. Damit geht Schleef über die in der Hiketiden-Tragödie ausgetauschten Argumente und Verhaltensnormen für Fremde, insbesondere Frauen, deutlich hinaus. Das gilt dann aber auch für die von dem Asylantenchor provozierte „ANTWORT“ durch den Gegenchor.

      Schuld an eurem Schicksal trifft euch. Wie euch helfen. Hier könnt ihr schlafen für eine Nacht und dann weiter, dahin wohin ihr gehört. Uns in einen Sturz verwickeln, ist das gerecht. […] Lasst uns in Ruh. […] Jetzt euch unter uns vermischen, wie stellt ihr euch das vor. Niemals. Wegdreht sich jeder von einer vertierten Frau. Alles habt ihr verloren, seht ihr noch wie Menschen aus. […] Als ob ihr, vertauschten wir die Rollen, anders mit uns verfahrt. Not, sagt ihr, bringt euch dazu. Unmäßige Forderungen mit Not begründen, hat auch der Gast eine Pflicht. Begnügsam sei er und erleide, was man ihm zu essen gibt, fordern ist fehl am Platz. Not. Könnt ihr euer Versagen mit Not untermauern. Gibt die euch das Recht.8

      Auf die Forderungen der Asylanten antworten die anderen mit einem nicht weniger aggressiven Schwall von Vorwürfen, Beleidigungen und Zurechtweisungen. Darüber hinaus betont die Konfrontation von Chor und Gegenchor, auch darin anknüpfend an das Mütter-Projekt, einen immer wieder aufbrechenden Konflikt zwischen Männern und Frauen, einen unablässigen СКАЧАТЬ