Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart. Группа авторов
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СКАЧАТЬ „Kollektiven ohne Zentrum“10 etwas Bedrohliches an: Schwärme bilden sich plötzlich und ohne nachvollziehbaren Grund und können sich genauso rasch wieder auflösen. Sie symbolisieren dadurch eine unmittelbar einbrechende, nicht fassbare Bedrohung. Der Schwarm beschreibt mithin ein Grenzphänomen, eine Figuration, die im Dazwischen binärer Ordnungen auftritt und einen Schwellenraum eröffnet, der „sowohl eine fundamentale Ordnungskategorie als auch eine transitorische Zone des Übergangs markiert.“11 In dieser Unberechenbarkeit eignet er sich dazu, Angst- und Katastrophenszenarien im Kontext von Asyl und Migration zu (re)inszenieren. Jelinek lässt diese Figuration der Durchquerung mittels eines ästhetischen Verfahrens erfahrbar werden, das ich gemeinsam mit Teresa Kovacs als „schwärmendes Schreiben“ bezeichnet habe.12 Tatsächlich haben wir es in Die Schutzbefohlenen mit changierenden Sprechinstanzen zu tun, die sich aus dem Nichts konstituieren, sich zu einer scheinbaren Autorität verdichten, um dann aber wieder zu zerfallen:

      Von alter Blutschuld, die grauenhaft der Erde Schoß entwich, ausgerechnet zu uns, zu meiner Familie, kann niemand befreit werden, es kann keine Ausnahme gemacht werden außer mir, ich bin außer mir, alle tot, alle tot, grauenhaft entwichene Schuld, aber das ist Ihnen wurst, das kümmert Sie nicht, allvernichtendes, das kann ich jetzt nicht lesen, Mordgen? Nein, von Genen wissen wir nichts, wir sind Bauern gewesen, wir sind Ingenieure gewesen, wir sind Ärzte gewesen, Ärztinnen, Schwestern, Wissenschaftlerinnen, wir sind etwas gewesen, jawohl, was auch immer […]. (SCH, S. 10)

      Das „Wir“ in den Schutzbefohlenen evoziert ein polymorphes Sprechen, das auf paradoxe Weise die Unmöglichkeit eines jeden „Wir“ feiert. Anstatt jedoch hinter dem „Wir“, das in Die Schutzbefohlenen figuriert, „die anderen“, d. h. „die Refugees“ zu vermuten, plädiere ich dafür, dieses „Wir“ als leeren Signifikanten aufzufassen, der als Produkt unterschiedlicher diskursiver Elemente und hegemonialer Artikulationen zu denken ist. Tatsächlich ist das chorähnliche „Wir“ der Schutzbefohlenen ohne ein „Anderes“ nicht zu erfahren. Das „Wir“ ist eben nicht als simple Vermehrung eines „Ich“ und „Du“ zu verstehen, wie Bernhard Waldenfels hervorgehoben hat: „Das performative ‘Wir’ des Aussagevorgangs deckt sich nicht mit dem konstativen ‘Wir’ des Aussagegehalts.“13 In der Regel bin „ich“ es, die „wir“ sagt, oder ist es eine andere Person, die im Namen des „Wir“ spricht. „Wir“ benötigt grundsätzlich eine/n Fürsprecher*in, die oder der eine Gruppe vertritt. Aussagen wie „Wir Österreicher“ oder „We refugees“ verwischen die Differenz, die zwischen dem Subjekt des Sprechakts und dem Gehalt des Sprechakts besteht. Ebendiese Differenz setzt Die Schutzbefohlenen in Szene. Die Tragödienfortschreibung leuchtet die Position der Fürsprecher*innen, oder – wie es im Text heißt – der „Stellvertreter“ des Wir aus und lenkt die Aufmerksamkeit auf die performativen Mechanismen, die im Konstruktionsprozess von Identität und Alterität zutage treten.

      Genau darin liegt das Potential der Jelinekschen Theatertexte. Sie verunmöglichen eindeutige Zuschreibungen, stiften kategoriale Verwirrungen und treiben ein Denken des Aporetischen voran, das so ungemein wichtig ist in Zeiten wie diesen.

      „Wir bitten nicht, wir fordern“

      Asyl im Theater

      Patrick Primavesi (Universität Leipzig)

      Griechische Tragödien bearbeiten immer wieder das Fremdsein in einer anderen oder auch in der „eigenen“ Kultur als existenzielle Krise. Für das antike Publikum, Angehörige der vielen griechischen Stadtstaaten des 5. Jhs. v. Chr., war die Erfahrung noch allzu vertraut, als Fremde schon in einer benachbarten Stadt keine bürgerlichen Rechte mehr zu haben. Dem entsprach die Darstellung von Flüchtigen und Schutzsuchenden, auch wenn die in den Tragödien behandelten Mythen sehr unterschiedliche Gründe für Flucht und Heimatlosigkeit enthalten. Bereits in der antiken Tragödie wird die Frage nach der Unantastbarkeit des bloßen und rechtlosen, weil von seiner kulturellen Form getrennten Lebens aufgeworfen, die Giorgio Agamben in seinen Studien zum Homo sacer als ein Leitmotiv der (bio)politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart untersucht hat.1 Die Tatsache, dass der Status des Menschen und die ethischen Werte der modernen westlichen Welt durch Vertreibung und Flucht im rechtlichen Ausnahmezustand hinfällig erscheinen, bringt gegenwärtig wieder mehr Theatermacher*innen dazu, an einem Theater der Tragödie weiter zu arbeiten. Das lange nicht gespielte Stück Hiketiden (Die Schutzflehenden) von Aischylos ist damit wieder präsent, in vielen neueren Inszenierungen oder Bearbeitungen. Wie im Folgenden gezeigt wird, provoziert dieser Text gegenwärtig eine Überschreitung theatraler Konventionen, bis hin zur Öffnung des Theaters als Asyl. Erneut stellt sich die Frage nach dem (un)möglichen Ort der Tragödie in der heutigen Gesellschaft. Dass diese Frage besonders die Instanz des Chores betrifft, wird exemplarisch an einem Anfang der 1990er Jahre entwickelten, aber nur in Teilen realisierten Projekt des Malers, Autors und Regisseurs Einar Schleef zu diskutieren sein.

      Fremdheit in Mythos und Tragödie

      Migration ist eine elementare Erfahrung, welche schon die antike griechische Kultur geprägt hat, die von Seefahrt und Handel abhängig war. Griechenland war in der klassischen Antike kein einheitlicher Staat, sondern ein eher loses Gebilde aus etwa 700 weitgehend autonomen, mitunter auch konkurrierenden und Krieg führenden Stadtstaaten. Die Griechen waren, wie Holger Sonnabend zugespitzt formuliert hat, sich „selbst sehr fremd“, sobald sie in eine andere Stadt kamen: „Der extreme Partikularismus in der griechischen Poliswelt machte die Griechen daher überall, außer in ihrer eigenen Stadt, zu Fremden.“1 So bildet die Situation, als Fremde/r auf Hilfe angewiesen zu sein, auch einen Kern der griechischen Mythologie. Homers Ilias und Odyssee bestehen zum großen Teil aus Migrationsgeschichten. Das Spektrum reicht von Helenas Flucht mit Paris in die Stadt Troja, die das Risiko auf sich nimmt, ihretwegen zerstört zu werden, bis hin zu den Irrfahrten des Odysseus, der nach dem Sieg über Troja zehn Jahre lang nicht in seine Heimat zurückkehren kann und als Fremder ständig den Gefahren einer ungastlichen Aufnahme ausgesetzt ist.2 Die elementare Erfahrung der Angewiesenheit auf ein Wohlwollen gegenüber Fremden teilten die Griechen auch mit ihren Göttern. Vor allem Dionysos erscheint stets fremd, fördert aber zugleich den Austausch zwischen den verschiedenen Kulturen der im Mittelmeerraum benachbarten Kontinente Europa, Afrika und Asien. Wie Walter Burkert hervorgehoben hat, sind schon die Parallelen zwischen den Werken Homers und früheren akkadischen und assyrischen Epen so weitreichend, dass der im 19. Jahrhundert unternommene Versuch, die klassische griechische Kultur von allen fremden Einflüssen in einer Art splendid isolation abzugrenzen, als gescheitert gelten kann.3 Götter und all ihre Nachkommen, die in den Mythen vorgeführt werden, sind permanent auf der Flucht, migrieren und fordern „Asyl“. Daraus resultiert eines der wichtigsten griechischen Rituale: eine fremde Gottheit aufzunehmen, indem man ihren Kult in die eigene Religion integriert. Die Vorstellung, dass den Mythen zufolge Götter und Göttinnen unter den ersten Asylsuchenden waren, bildet nur die Kehrseite der Wertschätzung des Asyls als einer heiligen Einrichtung.

      Das Problem insbesondere mit dem Gott Dionysos ist jedoch, dass er, anstatt entweder bloß fremd oder eingeboren und heimisch zu sein, diese Differenz selber unterläuft, hinfällig macht. Sein Kult verbindet ein Prinzip der Überschreitung mit der Umkehrung symbolischer Ordnungen, sodass er als Migrant unheimlich vertraut erscheint, mit rätselhaften, mitunter bedrohlichen Eigenschaften. Mit dem Auftreten des Dionysos werden Verwandlungsmacht, Rausch, Ekstase, Gewalt und Epidemien verbunden, wie Marcel Detienne das Bild des „befremdlichen Fremden“ gezeichnet hat.4 Diese vor allem in Euripides’ Tragödie Die Bakchen vorgeführte Dialektik des Un-Heimlichen in der Erscheinung des Dionysos liegt darin, dass er zwar häufig als fremd verkannt wird, eigentlich aber einheimisch ist, „von innen“ her kommt:

      Auf thebanischem Boden, mitten unter den Seinen, kann Dionysos nicht länger verbergen, daß er der Fremde aus dem Innern ist, und so das Befremdliche seiner Parusien zum Wesen seiner göttlichen Natur gehört, die unvergleichlich ist.5

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