Methoden der Theaterwissenschaft. Группа авторов
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СКАЧАТЬ Emotionen. Neben der Maskierung der Gesichter ist es die Form der Inszenierung als Groteske, die es unmöglich macht, einzelnen Akteuren bzw. Figuren ernsthaft bestimmte Emotionen zuzuordnen. Es wäre auch unklar, auf welchem kulturellen Repertoire diese Emotionszuschreibung hier fundiert werden könnte. Gaze-Schirm, Schrift-Projektionen und Clowns-Kostüme unterstreichen als dreifache Barriere zwischen Publikum und Schauspieler-Körper die radikale Indirektheit und Unzugänglichkeit des sichtbaren Ausdrucks. Zugleich wirken die Gummi-Kostüme in mehreren Richtungen affizierend: Sie sorgen für den Grundton der Groteske, der das gesamte Bühnenarrangement dominiert. Sie bestimmen die mimischen und gestischen Ausdrucksmöglichkeiten der Schauspieler*innen. Und sie prägen entscheidend auch die Erfahrungen der Zuschauer*innen, denn ganz gleich wie man je individuell auf aggressive clowneske Fratzen und gummihaft eingeschnürte Körper reagiert: In jedem Fall sind es Eindrücke, die das affektive Vermögen der Wahrnehmenden über den gesamten Zeitraum der Aufführung beschäftigten. Das politische Potential der Aufführung ergibt sich aus eben dieser sinnlich-räumlichen Erfahrung: dass eine künstlerische Auseinandersetzung mit Krieg, Gewalt und Flucht nur in komplexer sprachlich-ästhetischer Vermittlung und damit höchst indirekt, gebrochen und offen für Missverständnisse vielfältigster Art möglich ist.

      Eine so ausgerichtete Analyse würde also gerade nicht darauf abzielen, einzelnen Akteuren bestimmte Emotionen zu unterstellen oder überhaupt die emotionale Dimension des Theaters in den Vordergrund zu rücken. Es geht vielmehr um den Versuch, durch eine relationale Sicht auf das Geschehen nach dessen affizierenden Potentialen zu fragen. Die Beziehungsverhältnisse der Aufführung sollen analysiert werden, ohne sich dabei auf die personalen Interaktionen auf der Bühne oder die Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum zu beschränken. Die materiellen Arrangements wären in einem umfassenden, nicht mehr anthropozentrischen Sinne zu erfassen. Affekttheorie, Objekttheorie, spekulativer Realismus und andere theoretische Impulse der letzten Jahre verweisen auf die Notwendigkeit, eine Schreibweise zu überwinden, die alle Elemente einer Aufführung stets auf die Position des*der Schreibenden zu beziehen tendiert. Aufführungen sind affizierte und zugleich affizierende Konstellationen, die sich in permanenter Bewegung befinden und in dieser Bewegung die Positionen des Agierens und Zuschauens immer wieder neu verteilen. So käme es für affektorientierte Aufführungsanalysen darauf an, sich von vornherein auf Relationen und Konstellationen statt auf die eigenen subjektiven Empfindungen zu konzentrieren. Es liegt auf der Hand, dass beides nicht einfach voneinander zu trennen ist. Aber gerade in politischer Hinsicht bedeutet es einen Unterschied, ob man subjektive Empfindungen, den eigenen, individuellen Standpunkt stark macht – oder aber Relationen und Verdichtungen betont, die den eigenen Standpunkt immer auch destabilisieren können.

      Eine Differenz zu betonen zwischen solchen Schreibweisen, die das eigene Empfinden in den Mittelpunkt rücken, und anderen, die sich auf das Beschreiben von Relationen im Aufführungsraum konzentrieren, darf den Blick nicht davor verschließen, dass Aufführungsanalysen immer an spezifische Perspektiven und Positionen gebunden sind. Die Perspektivik des Beschreibens ist unhintergehbar, und man würde hinter die Standards schon der frühen, semiotischen Aufführungsanalyse zurückfallen, wenn man die Abhängigkeit des Analysierens von der eigenen sozialen und kulturellen Situiertheit leugnen wollte. Aus der Anerkennung dieser grundsätzlichen Perspektivik aufführungsanalytischen Schreibens lassen sich aber unterschiedliche Konsequenzen ziehen. Man kann sich umso entschiedener auf die sprachliche Repräsentation des eigenen Erlebens festlegen.2 Eine andere Vorgehensweise, für die ich hier plädieren möchte, relativiert die eigene Position durch eine relationale Perspektive – und interessiert sich darüber hinaus für die Frage, wo sich die verschiedenen Perspektiven auf die Aufführung manifestieren bzw. an welchen Materialien sie untersucht werden können.

      Eine Theateraufführung, das sei hier nur als Ausblick angedeutet, bringt solche Materialien selbst hervor. Aufführungen sind nicht nur auf Diskurse bezogen, sie generieren auch ihrerseits Diskurse, und diese generative Seite von Aufführungen müsste in der Analyse stärker beachtet werden. Was bedeutet es, Aufführungen als diskursgenerierende Ereignisse zu konzeptualisieren? Es bedeutet ernst zu nehmen, dass das Hier und Jetzt der Aufführung in allen Richtungen diskursive Erweiterungen hervorbringt. Die Texte, in denen sich diese Weiterungen niederschlagen, reichen von frühen Interviews mit dem Dramaturgen oder der Regisseurin über Programmhefte, Notizen und Diskussionsprotokolle von den Proben, Vorabberichte der Presse, Publikumsgespräche, begleitende Podiumsdiskussionen bis hin zu Rezensionen, Blogs und weiteren Rezeptionsdokumenten. Durch Interviews mit Teilnehmenden hat die Theaterwissenschaft die Möglichkeit, die Palette der aus der Aufführung heraus entstehenden Texte sogar noch zu erweitern. Sicher kann man einwenden, dass auch diese Materialien bei weitem nicht alle Perspektiven auf die Aufführung abdecken und erneut nur die Sichtweise eines ohnehin schon dominanten ‚Theatermilieus‘ reproduzieren. Gleichwohl zeigt sich, dass die von der Aufführung generierten Texte von innerer Vielstimmigkeit geprägt sind und auf Machtkonflikte und Deutungskontroversen hinweisen, die einer internalistischen Sichtweise verborgen bleiben würden.

      Von der Aufführung zum Dispositiv

      Gerald Siegmund und Lorenz Aggermann

      Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die Frage, wie die Aufführung unter zeitgenössischen Bedingungen, in denen Kunst produziert und rezipiert wird, definiert und untersucht werden kann. Denn wie wir gegenwärtig verstärkt bemerken und erfahren dürfen, sind ihre Grenzen und damit auch sie selbst nicht mehr klar zu umreißen. Was gehört noch zur Aufführung, wenn Künstler wie etwa Heiner Goebbels nicht nur Bühnenstücke in Szene setzen, sondern daraus Hörstücke entwickeln, Partituren und Bücher veröffentlichen oder gar, wie im Falle von Schwarz auf Weiß, Filme realisieren? Oder wenn Hans Neuenfels, wie zum Beispiel im Falle von Europa und der zweite Apfel den Film als einen notwendigen Katalysator seiner Inszenierung Der tollwütige Mund ansieht, ohne welchen die Aufführung nicht ihre Gestalt fände? Woran sich halten, wenn bspw. bei Marten Spangberg die Choreographie die Form eines Buchs annimmt, auf dessen ersten Seiten sogleich behauptet wird: „this book is a performance.“ 1?

      Zeitgenössische darstellende Kunst ist, wie der britische Philosoph Peter Osborne es formuliert, post-konzeptionelle Kunst, die sich in verschiedenen Formaten und Medien materialisiert und deshalb überall auf der Welt stattfinden kann. In unserem Verständnis sind diese anderen Formate der Aufführung nicht äußerlich. Sie sind nicht in erster Linie ökonomische Zweitverwertungen, sondern dem Material bereits eingeschriebene Formen, die sich in der Aufführung allein nicht umfassend materialisieren können. Der Ansatz, der uns zu einem erweiterten Verständnis von Aufführung führen soll, ist jener des Dispositivs. Die Aufführung ist die Materialisation eines ästhetischen Dispositivs.2

      Rückt man von der Vorstellung von Theater und seiner Aufführung in diesem Sinne als einem gegebenen Gegenstand ab und versteht es unter epistemologischen Prämissen als ein historisches und konzeptionelles Phänomen, das erst in seiner Vermessung konturiert oder gar produziert wird, so ergeben sich andere Fragen, die infolge womöglich im Zentrum einer zeitgenössischen Theaterwissenschaft stehen – nicht jene nach dem ontologischen Status der Aufführung oder der Kunst, sondern jene nach ihrer epistemischen und dispositivischen Verfasstheit: Was weiß die darstellende Kunst und ihre spezifische Ordnung, und mehr noch, was lässt uns ihre Rezeption wissen? Welche Elemente finden darin Eingang, welche Beziehung haben diese zueinander, zu den Beobachtenden, zu anderen Ordnungen? Welche Dynamiken sind innerhalb dieser Beziehungen am Werk, und in welcher Konstellation materialisieren sich diese Elemente und Beziehungen? Wer oder was regiert die Ordnung der Aufführung? Welche anderen Materialisationen gibt es darüber hinaus? Und vor allem: worauf antworten das je spezifische Dispositiv Theater respektive seine Materialisation in der Aufführung oder in anderweitigen Formaten?

      Zur Definition des Dispositivs

      Sein maßgebliches Fundament findet der Begriff des Dispositivs in der Epistemologie Michel Foucaults, der seine Schriften als latentes Konzept durchzieht und der für Foucault einen allgemeinen Fall der Episteme, also einer spezifischen Anordnung, darstellt.1 Der Begriff СКАЧАТЬ