Methoden der Theaterwissenschaft. Группа авторов
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СКАЧАТЬ beziehen lässt. So gehen Aufführungsanalysen, zumal wenn ein Erinnerungsprotokoll am Anfang steht, nicht immer von expliziten Hypothesen aus. Die Erkenntnisse, die aufführungsanalytisch gewonnen werden, sind im strengen Sinne nicht nachprüfbar. Und wo nur noch quantifizierbare Ergebnisse zählen, läuft die Praxis der Theaterwissenschaft auch jenseits der Aufführungsanalyse Gefahr, als ein subjektivistisches Gerede über Aufführungen disqualifiziert zu werden.

      Um eben diesen Subjektivismus-Vorwurf gegen die Aufführungsanalyse soll es in meinem Beitrag gehen. Denn der Vorwurf verfolgt die Theaterwissenschaft besonders hartnäckig, er wird auch fachintern immer wieder laut und prägt die Lehre von Anfang an. Bereits im allerersten Semester – und dann in immer neuen Wendungen – fragen Studierende: „Wie subjektiv darf meine Analyse sein?“ Die Antwort lautet in der Regel: Natürlich darf sie subjektiv sein, muss es sogar – aber dann ertappen sich Lehrende doch dabei, vom siebenundzwanzigsten Erinnerungsprotokoll, in dem ausführlich dargelegt wird, wie sehr man sich in der Aufführung gelangweilt oder wovor man sich geekelt hat, ein wenig entnervt zu sein. Dass die subjektivistische Schilderung von eigener Langeweile, persönlichen Abneigungen und idiosynkratischen Befindlichkeiten am Ende nicht viel über die zu analysierende Aufführung aussagt, wird den Seminargruppen schnell deutlich, doch umso dringlicher stellt sich dann die Frage nach dem sozusagen angemessenen, akzeptablen Maß an Subjektivität.

      Die identitätspolitischen Debatten der letzten Jahre haben das Problem verschärft. Denn während man es vor nicht langer Zeit noch vorwiegend eindrucksvoll fand, wenn jemand sein individuelles Spüren und Fühlen in einer Aufführung differenziert zu beschreiben vermochte, können solche Beschreibungen heute nicht nur auf eine methodologische, sondern auch auf eine politische Kritik stoßen: Ist es überhaupt zulässig, von eigenen Gefühlen und Empfindungen auf die Erfahrungsdimension ganzer Aufführungen zu schließen? Neigen die Analysierenden von Aufführungen nicht zu unbefangen dazu, ihre eigene Sicht der Dinge zu verallgemeinern, ohne zu berücksichtigen, dass dasselbe szenische Geschehen von anderen Zuschauer*innen vielleicht ganz anders wahrgenommen wurde? Die politische Dimension dieser Fragen wird deutlich, wenn man hinzufügt, dass diese anderen Zuschauer*innen womöglich anderen sozialen und kulturellen Milieus angehören, mit anderen Ausschlüssen und Diskriminierungen konfrontiert sind, einen anderen Erfahrungshintergrund in die Aufführung mitbringen. Die Blackfacing-Debatte nach 2012 hat unterstrichen, dass es nicht irrelevant ist, wer aus welcher Perspektive und von welcher sozialen Position aus über eine Aufführung spricht oder schreibt.1 Eine mögliche Schlussfolgerung aus der Debatte konnte es sein, sensibler darauf zu achten, die eigene Sicht auf eine Aufführung (auch im wissenschaftlichen Schreiben) nicht unhinterfragt zu universalisieren. Dies gilt umso mehr, wenn von Affekten, Gefühlen oder Emotionen die Rede ist.

      Im Folgenden soll das Subjektivitätsproblem der Aufführungsanalyse gerade in Bezug auf ein affektorientiertes Schreiben erörtert werden. Der erste Teil versucht einen kurzen Rückblick auf Traditionslinien der Aufführungsanalyse. Die aktuelle Virulenz des Subjektivitätsproblems wird im zweiten Teil genauer erläutert. Im dritten Teil soll eine Differenz zwischen Affekt und Emotion betont werden, um auf dieser Grundlage im letzten Teil eine affektorientierte Analyserichtung vorzuführen, die darauf abzielt, den Subjekt-Objekt-Gegensatz im Beschreiben des szenischen Geschehens wenn nicht zu überwinden, so doch abzuschwächen und weniger stark in die Deskriptionen einfließen zu lassen. Es kann nicht darum gehen, die unhintergehbare Subjektivität des Analysierens zu kaschieren. Gleichwohl sind Möglichkeiten erkennbar, gerade die affektive Dimension der Aufführung zu thematisieren, ohne das gesamte Geschehen auf ein angebliches ‚Ich‘ des Analysierenden zu zentrieren.

      1. Was ist Aufführungsanalyse?

      Die Aufführungsanalyse stand keineswegs am Anfang der Fachgeschichte der Theaterwissenschaft, sondern wurde erst seit den späten 1970er Jahren in Europa und den USA entwickelt. Vorausgegangen war eine durchgreifende Theoretisierung der Theaterwissenschaft im Zeichen von Kommunikationstheorie, Semiotik und (Post-)Strukturalismus.1 Aufführungsanalyse ist ein Verfahren, mit dem kulturelle Aufführungen (Cultural Performances) im Allgemeinen und Theateraufführungen im Besonderen auf ihre Formen, Bedeutungen und Wirkungen untersucht werden können. Dabei werden Aufführungen als Ereignisse des Zeigens und Zuschauens verstanden, für die sich Akteure und Publikum zur selben Zeit am selben Ort versammeln. Zur Abgrenzung solcher Aufführungen von anderen Ereignisformen kann eine klassische Definition des Ethnologen Milton Singer herangezogen werden. Demnach zeichnen sich Aufführungen (Performances) aus durch „a definitely limited time span, or at least a beginning and an end, an organized program of activity, a set of performers, an audience, and a place and occasion of performance“.2 Die Aufführungsanalyse ist jedoch nicht aus der Ethnographie heraus entstanden, sondern wurde an professionellen Theaterformen entwickelt, die im weitesten Sinne der Kunstsphäre zuzurechnen sind. In ihrer heutigen Praxis kann man eine semiotische von einer phänomenologischen Variante unterscheiden.3

      Die semiotische Variante fragt danach, wie in Aufführungen Bedeutung hervorgebracht wird. Die Aufführung wird dabei als ein Ensemble heterogener Zeichen aufgefasst, die auf komplexe Weise miteinander korrespondieren und von den Zuschauer*innen decodiert werden müssen. Die Analyse zielt darauf ab, die Zeichenstruktur der Aufführung genau zu erfassen, um dadurch Mechanismen der Bedeutungsproduktion herausarbeiten zu können. Der Blick richtet sich insofern auf die verschiedenen Zeichensysteme des Theaters (darunter das gesprochene Wort, Stimme, Klang, Mimik, Gestik, Proxemik, Raumgestaltung, Kostüme, Maske, Licht u.v.m.) und zugleich auf die erkennbaren Bedeutungseinheiten. Der*die Analysierende versucht zunächst, die Aufführung zu untergliedern (in Sequenzen, Szenen oder kleinere Einheiten), um dann die dominanten und prägenden Zeichenstrukturen ausfindig zu machen und diese auf ihre Bedeutung zu befragen. Es kann sinnvoll sein, einzelne, besonders markante Zeichen oder Zeichenkomplexe herauszugreifen und aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Neben der eigentlichen Bedeutung sind immer auch Konnotationen und Assoziationen von Interesse, so dass feine Nuancen und individuelle Varianten des Verstehens hervortreten können. Es geht weniger um das Fixieren eines ‚Sinns‘ der Aufführung als vielmehr um ein differenziertes Herausarbeiten der vielfältigen Prozesse, in denen Bedeutungen im szenischen Geschehen konstituiert, aber häufig auch wieder destabilisiert werden.4

      Die phänomenologische Variante der Aufführungsanalyse ist dagegen mehr an Wirkungen als an Bedeutungen interessiert. Sie fragt nach den Erfahrungen, die in einer Aufführung gemacht werden können. Dabei kommt es entscheidend darauf an, dass der*die Analysierende seine*ihre eigene Aufführungserfahrung genau beschreibt und reflektiert. Zu diesem Zweck wird nach dem Aufführungsbesuch ein so genanntes Erinnerungsprotokoll angefertigt, in dem der*die Wahrnehmende Aspekte oder Momente der Aufführung beschreibt, die besonders nachhaltig auf ihn*sie gewirkt haben. In der Reflexion dieser „markanten Momente“5 stehen nicht Bedeutungen, sondern Erfahrungen im Zentrum, wie sie etwa mit Kategorien wie Klang, Stimme, Rhythmus, Atmosphäre oder Präsenz erfasst werden können.6 Die Subjektivität der entstehenden Beschreibungen wird dabei nicht als Problem empfunden, zumal im Konzept des Phänomens (d.h. des wahrgenommenen oder empfundenen Dings) der*die Wahrnehmende und das Wahrgenommene als untrennbar verschränkt gedacht werden.7 Ähnlich werden etwa Atmosphären aus phänomenologischer Sicht als eine von Wahrnehmenden und Wahrgenommenem gemeinsam konstituierte Erfahrung konzeptualisiert.8 Das Schreiben wird von den Phänomenen inspiriert. Eine phänomenologisch ausgerichtete Aufführungsanalyse setzt weniger auf die Lektüre einzelner Zeichen als auf das ganzheitliche „leibliche Spüren“ von Affektivität.9 Der*die Analysierende soll sich über das eigene Befinden in der Aufführung Rechenschaft ablegen.

      In der Praxis werden die beiden Varianten der Aufführungsanalyse heute meist miteinander kombiniert, weil sich theaterwissenschaftliche Studien in aller Regel sowohl für die Bedeutungs- als auch für die Erfahrungsdimension von Aufführungen interessieren. Manche Forscher*innen legen Wert auf einen Unterschied zwischen Aufführungs- und Inszenierungsanalyse:10 Während in der Inszenierungsanalyse die Konzeption des auf der Bühne Gezeigten, das im Probenprozess Erdachte und Erarbeitete im Vordergrund steht, geht es in der Aufführungsanalyse um die Erlebnisse und Deutungen im Hier und Jetzt des einzelnen performativen Ereignisses. СКАЧАТЬ