Название: Die Todesstrafe I
Автор: Jacques Derrida
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Passagen forum
isbn: 9783709250389
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Unter politischer Gewalt verstehe ich dann ein Recht, für die Regelung und Erhaltung des Eigentums Gesetze mit Todesstrafe und folglich auch allen geringeren Strafen zu schaffen, wie auch das Recht, die Gewalt der Gemeinschaft zu gebrauchen, um diese Gesetze zu vollstrecken und den Staat gegen fremdes Unrecht zu schützen, jedoch nur zugunsten des Gemeinwohls.34 +
Auch Rousseau rechtfertigt im Gesellschaftsvertrag die Todesstrafe gemäß einer mindestens analogen (vielleicht auch bloß analogen) Logik, in einem sehr schönen, ziemlich komplexen Kapitel, das ich später mit Ihnen genauer zu lesen hoffe; es handelt sich dabei um das 5. Kapitel des Zweiten Teils des Gesellschaftsvertrags, das den Titel „Vom Recht über Leben und Tod“ trägt, ein Kapitel, das nicht zufällig auf die Kapitel über die Souveränität folgt. Im Laufe einer verwickelten, nuancierten, beunruhigten, ja sogar besorgten Argumentation, aus der ich für den Augenblick nur folgenden Vorschlag herausgreife, billigt Rousseau auf diese Weise die Todesstrafe:
Die Todesstrafe, die über Verbrecher verhängt wird, kann man etwa unter demselben Gesichtspunkt betrachten [unter dem, an den er soeben erinnert hatte, dem des Staates, dessen „Fürst sagt: Es ist dem Staat dienlich, daß du stirbst“, und dessen Bürger also „sterben [muß]; denn einzig unter dieser Bedingung hat er bisher in Sicherheit gelebt, und sein Leben ist nicht mehr nur eine Gabe der Natur, sondern ein bedingtes Geschenk des Staates“++]: um nicht selbst das Opfer eines Meuchelmörders zu werden, ist man einverstanden zu sterben, wenn man einer wird.+++ Weit entfernt davon, über sein eigenes Leben zu verfügen, versucht man durch diesen Vertrag nur, es sicherzustellen, und es ist nicht anzunehmen, daß dabei einer der Vertragschließenden die Absicht hat, sich hängen zu lassen.35
Ein in vielerlei Hinsicht außerordentlicher Satz, sowohl deshalb, weil er die Todesstrafe in einen berechnenden, berechneten Vertrag einschreibt: Ich will ein wohlbehaltenes und gesichertes Leben haben, also muss ich versprechen, das meine gegen diese Versicherung zu verlieren, falls ich dahin komme, das Leben eines Anderen zu bedrohen oder anzutasten. Ein rationaler und vertragsmäßiger Tausch, ein totaler Gesellschaftsvertrag und eine zirkuläre Ökonomie, die zudem in genialer Weise auf dem Prinzip der Erhaltung des Lebens beruht, auf einem Erhaltungstrieb, von dem Rousseau ebenso vorsichtig wie unvorsichtig sagt, dass man dies „annehmen“ könne, das heißt dass man annehmen könne, dass kein Vertragspartner die Absicht hegt, sich hängen zu lassen! Man wird sehen! Man wird sehen! Denn wenn dem so ist, wenn niemand daran dächte, sich hängen zu lassen oder es zu riskieren, gehängt zu werden, dann gäbe es niemals einen Mord noch die Todesstrafe. Es stimmt, dass Rousseau in seinem Ausdruck minutiöser ist, denn er spricht davon, „anzunehmen [présumer]“, dass niemand „die Absicht hat [prémédite], sich hängen zu lassen“.+ Wir werden rasch sehen, mit welchen Zangen beziehungsweise Pinzetten [pincettes] man eine solche Annahme nehmen muss, auch ohne irgendeinen Todesstrieb geltend zu machen. Rousseau selbst übrigens hat in diesem Kapitel, das ich für eines der zerklüftetsten und interessantesten des Gesellschaftsvertrags halte, voller Beunruhigung immer weitere Vorbehalte, Faltungen, Gewissensbisse angeführt (ich hoffe, die Chance zu haben, darauf zurückzukommen, um dieses Kapitel mit ihnen Wort für Wort zu lesen, wie es das verdienen würde). Ich schematisiere also provisorisch die Vorbehalte, die Rousseau in dem Moment vorbringt, da er das Prinzip der Todesstrafe aufrechterhält, und zwar scheinbar gemäß der biblischen Tradition, nach der der Mörder den Tod verdient.
1. Erster Vorbehalt: Er macht aus der Todesstrafe [peine de mort] ein Verdikt, das sich dem Zivilrecht entzieht und de facto auf dem Kriegsrecht beruht, so als ob es im Zivilrecht für die Todesstrafe [peine capitale] keinen Platz gäbe. Kriegsrecht, weil der Missetäter, indem er das gesellschaftliche Recht bricht, zu einem Verräter am Vaterland wird; er ist kein Glied des Staates mehr und wird, Rousseaus Wortlaut gemäß, zu einem „Staatsfeind [ennemi public]“: „Denn solch ein Feind ist keine sittliche Person, er ist nur irgendein Mensch; und unter diesen Umständen ist es Kriegsrecht, den Besiegten zu töten.“36 Was nur eine bestimmte Art und Weise ist, die Todesstrafe aus dem internen zivilen Strafrecht zu verdrängen, man könnte sogar sagen, sie a priori aufzuheben, um sie nur als Kriegsrecht zuzulassen. Ein Gestus, der umso seltsamer [étrange] anmutet, als die Frage der „Außenpolitik [politique étrangère]“, insbesondere des Kriegsrechts, aus dem Gesellschaftsvertrag ausgeschlossen ist beziehungsweise nur mittels Auslassung behandelt, auf später verschoben wird, in den letzten Absatz des Schlusses (sieben Zeilen über „diesen neuen, für meinen beschränkten Gesichtskreis zu ausgedehnten Gegenstand; stets hätte ich meinen Blick auf das mir Näherliegende richten sollen“37).
2. Zweiter Vorbehalt: Rousseau trennt, er ist bereit – eine in der Tradition noch nie da gewesene Geste –, die Ausübung der Souveränität und die Ausführung der Verurteilung, jeglicher Verurteilung, voneinander zu trennen; er anerkennt, dass die Verurteilung eines Verbrechers nicht der allgemeine Akt des Souveräns ist, sondern ein partikulärer Akt; und er fügt, ziemlich verlegen hinzu:
Aber, wird man einwenden, die Verurteilung eines Verbrechers ist ein einzelner Akt. Einverstanden; deshalb steht diese Verurteilung nicht dem Souverän zu; sie ist ein Recht, das er zwar übertragen, aber nicht selbst ausüben kann. Meine Vorstellungen hängen alle zusammen, aber ich kann sie nicht alle auf einmal vorbringen.38 [Kommentieren.39]
3. Dritter Vorbehalt: Man kann den Schuldigen immer rehabilitieren oder bessern, die Idee der Strafe als Exempel ist ungerechtfertigt (womit sich Rousseau von vornherein der hartnäckigsten aller Argumentationen zugunsten der Todesstrafe entgegenstellt: ihrem exemplarischen Charakter, ihrer Wirkung durch das Exempel). Trotz dieses Einwands und dieses Vorbehalts erhält Rousseau das Prinzip der Todesstrafe im Falle einer im Prinzip unabwendbaren Gefahr aufrecht, was zum Beispiel des Staatsfeinds und des Kriegsrechts zurückführt. Er schreibt: „Es gibt keinen Bösewicht, den man nicht für irgend etwas tauglich machen könnte. Man hat nicht das Recht, jemand zu töten, nicht einmal zur Abschreckung [pour l’exemple], ausgenommen jemand, den man ohne Gefahr nicht erhalten kann.“40
Diese drei Vorbehalte verkomplizieren die grundlegende Absicht (die Bejahung der Legitimität der Todesstrafe) auf so merkwürdige Weise und überdeterminieren sie in ausreichendem Maße, um Rousseau ganz zu verwirren, der einen abschließenden Abschnitt über das Begnadigungsrecht (ein Recht, das dem Souverän zusteht und dem Rousseau nicht sehr wohlgesonnen zu sein scheint) [der also den Abschnitt über das souveräne Begnadigungsrecht und das Kapitel „Vom Recht über Leben und Tod“ mit folgenden Herzensworten und folgender Unterzeichnung eines Bekenntnisses] abschließt: „Aber ich spüre, wie mein Herz aufbegehrt [man verstehe darunter: gegen meinen Einwand gegen das Begnadigungsrecht des Staates] und die Feder stocken läßt; lassen wir den Gerechten diese Fragen erörtern, СКАЧАТЬ