Theorie U - Von der Zukunft her führen. C. Otto Scharmer
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СКАЧАТЬ verwende, meine ich damit alle Menschen, die sich für die Schaffung von Veränderung oder die Gestaltung der Zukunft einsetzen, unabhängig von ihrer formalen Position in institutionellen Strukturen. Dieses Buch habe ich geschrieben für Veränderungsaktivisten und Führungskräfte in Unternehmen, Regierungen, gemeinnützigen Organisationen und Gemeinden. Ich war und bin oft tief beeindruckt, wenn ich beobachte, wie Innovatoren und hervorragende Praktiker auf der Basis eines tiefer liegenden Prozesses tätig werden, eines Prozesses, den ich den U-Prozess nenne. Dieser Prozess zieht uns in eine entstehende Möglichkeit hinein – zieht uns gewissermaßen in die entstehende Zukunft – und erlaubt uns, von diesem anderen Zustand aus zu handeln, anstatt lediglich zu reflektieren und uns auf vergangene Erfahrungen zu beziehen. Aber um auf diese entstehenden Möglichkeiten zugreifen zu können, müssen wir uns zunächst eines blinden Flecks in der Führung und im Alltag bewusst werden.

       Der blinde Fleck

      Um die Herausforderungen, vor denen wir stehen, in Angriff zu nehmen, brauchen wir eine soziale Technik, die es uns als Individuen, Gruppen, Organisationen und auch als Gesellschaft ermöglicht, von unserem höchsten Zukunftspotenzial her zu handeln. Bei der Zusammenarbeit mit Führenden und Gruppen in allen Bereichen der Gesellschaft ist meinen Kollegen und mir im Laufe der letzten 20 Jahre klar geworden, dass es einen blinden Fleck gibt. Doch wenn wir uns dieses blinden Flecks bewusst werden, erlaubt uns dieses Bewusstsein, ein solches Potenzial zu erschließen. Der blinde Fleck ist der Quellort unserer Aufmerksamkeit und unserer Intention. Es ist der Ort, von dem aus wir handeln, wenn wir handeln. Dass dieser Fleck blind ist, liegt daran, dass er eine unsichtbare Dimension unseres gewohnheitsmäßigen sozialen Feldes, unserer alltäglichen Erfahrung in sozialen Interaktionen ist. Diese unsichtbare Dimension des sozialen Feldes bezieht sich auf die Quellen oder Ursprünge, aus denen heraus ein bestimmtes soziales Feld hervorgeht und manifest wird.

      Man kann dieses Phänomen damit vergleichen, welchen Zugang man als Betrachter zu der Arbeit eines Künstlers oder einer Künstlerin wählt. Es gibt zumindest drei mögliche Perspektiven:

      •Wir können uns auf das Ding konzentrieren, das aus einem kreativen Prozess hervorgeht – sagen wir, ein Bild,

      •wir können uns auf den Prozess des Malens konzentrieren, oder

      •wir können die Künstlerin beobachten, während sie vor einer leeren Leinwand steht.

      Mit anderen Worten: Wir können ihr Werk ansehen, nachdem es geschaffen worden ist (das Ding), während sie es schafft (den Prozess) oder bevor der schöpferische Prozess einsetzt (die leere Leinwand oder die Dimension der Quelle).

      Setzen wir dies in Analogie zu sozialen Prozessen und Führung, so können wir auch die Arbeit von Führungskräften aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten (Abb. E.1):

      •Erstens könnten wir dabei zusehen, was der Führende (meistens ist es immer noch ein »Er«) tut. Unzählige Bücher wurden aus dieser Perspektive geschrieben.

      •Zweitens könnten wir beobachten, wie geführt wird, welchen Prozess Führende in Gang setzen. Das ist der Blickwinkel, den wir seit mehr als zwei Jahrzehnten in der Management- und Führungsforschung eingenommen haben. Wir haben alle Aspekte und funktionalen Bereiche im Zusammenhang mit Managern und Führungskräften aus der Sicht des Prozessparadigmas analysiert. Viele hilfreiche Erkenntnisse sind aus diesem Strom der Forschungsarbeit hervorgegangen.

      •Niemals jedoch haben wir systematisch die Arbeit der Führenden von der dritten Möglichkeit her angesehen, der leeren Leinwand. Die Frage, die ungestellt blieb, lautet: Welches sind die inneren Quellen, von denen aus Führende wirksam werden, wenn sie wahrnehmen, kommunizieren und handeln?

       Abb. E.1: Drei Perspektiven für die Arbeit von Führungskräften

      Dieser blinde Fleck fiel mir zum ersten Mal auf, als ich mit dem früheren Geschäftsführer der Hanover Insurance Group, Bill O’Brien, sprach. Er erzählte mir, seine größte Erkenntnis nach vielen Jahren von Veränderungsmanagement und organisationsweitem unternehmerischem Wandel sei, dass »der Erfolg einer Intervention von der inneren Verfassung des Intervenierenden abhängt«.

      Diese Beobachtung schlug bei mir ein wie der Blitz. Bill half mir zu verstehen, dass das, was zählt, nicht nur das ist, was Führende tun und wie sie es tun, sondern auch ihre »innere Verfassung«, der innere Ort, von dem aus sie wahrnehmen, der Quellort, von dem alle Handlungen ihren Ausgangspunkt nehmen.

      Der blinde Fleck, um den es hier geht, weist auf einen fundamentalen Aspekt in Management und Sozialwissenschaften hin. Er berührt ebenfalls unsere tägliche soziale Erfahrung. Während unserer täglichen Arbeit oder unserer täglichen sozialen Interaktionen sind wir uns normalerweise sehr dessen bewusst, was wir tun und was andere tun; wir verstehen auch einigermaßen, wie wir die Dinge tun, verstehen die Vorgehensweisen, mittels deren wir und andere handeln. Wenn wir jedoch fragen würden: »Was ist eigentlich der Quellpunkt, von dem aus wir tätig werden?«, so wären die meisten von uns wahrscheinlich nicht in der Lage, eine Antwort zu geben. Wir können die Quelle, von der aus wir aufmerksam sind und wirksam werden, nicht sehen; wir sind uns des Ortes, der den Ausgangspunkt unserer Aufmerksamkeit und Intention bildet, nicht bewusst.

      Nachdem ich die letzten zwei Jahrzehnte meiner professionellen Tätigkeit im Bereich des organisationalen Lernens verbracht habe, ist meine wichtigste Erkenntnis, dass es zwei unterschiedliche Quellen des Lernens gibt:

      •Lernen aus den Erfahrungen der Vergangenheit und

      •Lernen aus der im Entstehen begriffenen Zukunft.

      Ein paar Leute, denen ich die Idee einer zweiten Quelle des Lernens zunächst vorstellte, fanden, der Gedanke führe in die falsche Richtung. Der einzige Weg, zu lernen, argumentierten sie, sei der aus der Vergangenheit: »Otto, aus der Zukunft zu lernen ist nicht möglich. Verschwende deine Zeit nicht!« Aber als ich begann, mit Führungsteams aus unterschiedlichsten Sektoren und verschiedenen Industrien zu arbeiten, wurde mir klar, dass Leitungskräfte den aktuellen Herausforderungen der krisenhafte Zusammenbrüche (Disruption; vgl. Bild 3 und Beobachtung 2 im Vorwort zur Neuauflage) gar nicht genügen können, wenn sie sich nur auf der Basis vergangener Erfahrungen bewegen.