„Wie? Ja ... ja, mit mir ist alles in Ordnung“, stammelte die Zwergin.
„Was machst du denn hier draußen? Es ist doch bitterkalt.“ Mit diesen Worten schlüpfte Ranon aus seinem Mantel und legte ihn seiner Frau behutsam über die Schultern.
„Ach nein“, widersprach diese schwach lächelnd. „Ich finde es angenehm. Und abgesehen davon hatten wir schon lange keine so sternenklare Nacht mehr wie diese.“
„Das stimmt wohl“, pflichtete der Bärtige ihr bei und richtete seinerseits den Blick in den nächtlichen Himmel. „So friedlich, so beruhigend.“
„Ja“, murmelte Raja. „Kaum zu glauben, dass unser wunderschönes Land in naher Zukunft Schauplatz eines grausamen Krieges sein soll.“
Ranon seufzte und senkte den Blick auf seine Frau, die ihn traurig aus ihren großen topasfarbenen Augen ansah. „Denkst du denn wirklich, dass Nalajs Prophezeiungen stimmen? Ich meine, sie ist eine alte, recht verwirrte Frau.“ Raja schürzte die Lippen und strafte ihren Gatten mit einem wütenden Blick. „Schon gut, schon gut. Ich meine ja nur.“
„Ranon, Nalaj mag vielleicht nicht mehr die Jüngste sein und – ja, zugegeben – manchmal wirkt sie etwas verwirrt, aber dennoch glaube ich ihr und ihren Prophezeiungen. Ich meine, ich war da, ich war selbst da, als Walgerad von einem Heer Yarge überfallen und dem Erdboden gleichgemacht wurde.“ Bei dem Gedanken an den widerwärtigen Yargen, der sie damals in Walgerad angesprungen und ihr ins Gesicht gebissen hatte, strich sich Raja mit den Fingern über die silbrig schimmernde Narbe, die sichelförmig von ihrem linken Jochbein bis knapp über das Kinn reichte. Sie seufzte, verwarf die schmerzhafte Erinnerung und fuhr fort: „Und was ist mit den seltsamen Vorfällen, die sich momentan in ganz Nibelar zutragen? Wie erklärst du dir, dass Menschen, Elfen und Zwerge auf unerklärliche Weise verschwinden? Oder dass Blumen, Bäume, ja gar ganze Wälder über Nacht all ihre Blätter fallen lassen und verdorren?“
„Schon gut, schon gut, du hast ja recht, ich glaube dir. Und ich glaube auch dieser Nalaj – dir zuliebe. Felsstadt wappnet sich bereits für den Fall eines Angriffs. Unsere Mauern werden standhalten und auch unsere Streitkräfte werden sich zu verteidigen wissen. Und dennoch, sollte dieser Jarkodas tatsächlich mit seiner Armee über Nibelar herfallen, bedürfte es weit mehr als Felsstadts Königswache, um das Land vor dem sicheren Untergang zu bewahren.“
„Das weiß ich doch, Ranon, aber du sorgst dich umsonst. Wir sind nicht allein, Dalwas’ und Walgerads Elfen kämpfen an unserer Seite ... und was ist mit den Zwergen aus Selatog und Zwergenruh? Haben wir nicht bereits nach ihnen geschickt?“
„Pah!“, fauchte der Bärtige. „Mag ja sein, dass uns die Elfen zu Hilfe kommen würden, aber was das Volk der Zwerge anbelangt, so bin ich mir dessen Unterstützung nicht gewiss.“ Ranon blickte Raja eindringlich in die Augen, während er mit gesenkter Stimme weitersprach. „Terdan, Zwergenruhs Ältester, ist wenig auf unser Wohl bedacht, vielmehr gilt sein Interesse seinem eigenen Volk, oder besser gesagt dessen Schatzkammer. Gold, Silber, seltene Edelsteine –Terdans Gier nach Macht und wertvollen Schätzen ist unersättlich und hat über die Jahre hinweg seinen Verstand verseucht ... Und was den Stadtherren Horgard aus Selatog betrifft, so brauche ich dir unseren Disput vor fünf Jahren gewiss nicht in Erinnerung zu rufen.“
„Nein“, gab die kleinlaute Stimme der Zwergin murmelnd zur Antwort. „Aber das ist doch inzwischen längst verjährt.“
„Für dich vielleicht, aber Horgard ist einer der letzten Nordclam-Zwerge – stur, eigensinnig und ungemein nachtragend.“
Die kleine Frau nickte stumm und ließ den Kopf sinken. Eine kühle Brise kam auf, wehte ihr das rote Haar aus der Stirn und Ranon erkannte die Trauer in ihren Augen. Seufzend legte er ihr den Zeigefinger unter das Kinn und hob es so an, dass sie einander gut in die Augen sehen konnten.
„Raja“, sagte er liebevoll. „Ich verspreche dir, dass ich alles geben werde, um Horgard und Terdan von Nalajs Prophezeiungen und unserem Vorhaben zu überzeugen. Wer weiß, vielleicht täusche ich mich ja in ihnen und sie schließen sich uns an. Und falls nicht ... nun, so haben wir es wenigstens versucht.“ Ranon schenkte seiner Frau ein gewinnendes Lächeln, strich mit dem Daumen sanft über ihre Wange und bedeckte ihre Lippen mit einem zärtlichen Kuss. „Fühlst du dich jetzt ein wenig besser?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen grinste der Bärtige unverschämt. Die kleine Frau lächelte kopfschüttelnd und barg das Gesicht an der stattlichen Brust ihres Gemahls. „Sag mal“, raunte der. „Hier draußen ist es doch bitterkalt, wollen wir uns nicht lieber in unser mollig warmes Schlafgemach zurückziehen?“
Nun breitete sich auch auf Rajas Lippen ein breites Grinsen aus. Sie hob den Kopf und blickte Ranon in die schmachtenden Augen. „Na ja“, sagte sie und strich ihm verführerisch mit den Fingerkuppen über die Unterlippe. „Warum eigentlich nicht? Algar schläft tief und fest und mir würde zur Abwechslung mal wieder eine Nacht in meinem eigenen Bett nicht schaden.“
Mit freudig strahlenden Augen senkte Ranon den Kopf und platzierte begierige Küsse auf dem zierlichen Gesicht seiner Frau. Er roch ihren lieblichen Duft, spürte ihre zarte Haut. Schon wollte er sie auf die kräftigen Arme nehmen, als sie ihn erschrocken von sich schob.
„Scht“, hauchte sie und lauschte. Ein schwaches Husten. „Das ist mein Onkel, er muss aufgewacht sein.“ Mit betrübter Miene flüsterte sie entschuldigend: „Tut mir leid, mein Liebling, aber du wirst dich wohl noch etwas gedulden müssen. Algar braucht seine Medizin.“ Sich innig umarmend schwiegen die beiden einen Moment lang. Dann löste sich Raja aus der Umarmung, küsste Ranon liebevoll auf die Lippen und ging schweigend die paar Schritte zur großen Tür, die in Algars Gemächer führte. Sie blickte wehmütig über die Schulter. Ranon stand unverändert betrübt am Geländer. „Weißt du was?“, sagte sie mit verführerischer Stimme. „Geh doch schon mal vor, ich kümmere mich um meinen Onkel und komme dann nach, sowie er schläft.“ Nun erstrahlte auf Ranons Gesicht ein glückliches, ja, fast schon jungenhaft übermütiges Grinsen und er nickte bekräftigend. Ein leises Klacken, die Tür fiel ins Schloss und Raja war verschwunden.
Der nächste Morgen begann kühl und die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich nur zaghaft ihren Weg durch einen Spalt zwischen den Nachtvorhängen in Algars Schlafgemach. Das weißgelbe Licht ergoss sich sanft über den steinernen Boden, den purpurnen Läufer, der vor des Königs Bett lag, und den gepolsterten Sessel mit der hohen Lehne, in dem Raja in eine kuschelige Decke gehüllt schlief. Als die wärmenden Strahlen auf das Gesicht der kleinen Frau fielen, erwachte sie. Träge blinzelnd fiel ihr Blick sogleich auf das riesige Bett mit dem goldverzierten Seidenhimmel und der cremefarbenen Seidenwäsche, in welchem der König auf ein Daunenpolster gebettet lag. Er sah schlecht aus. Die Haut wachsig blass, die Wangen eingefallen und die geschlossenen Augen von dunklen Schatten umrandet. Sein grauer, sonst so gepflegter Bart wirkte strohig und irgendwie ungepflegt.
Mit steifen Gliedern erhob sich Raja aus ihrem Sessel und setzte sich ans Bett des Königs. Seine Atmung war noch immer schwach und bedenklich unregelmäßig. Behutsam drückte die Zwergin ihren Handrücken an seine Stirn. Fieber. Sie seufzte, griff nach dem Lappen, der auf der Kommode neben dem Bett in einer Schüssel mit milchiger Flüssigkeit lag, wrang ihn aus und legte ihn Algar auf die Stirn. Der Alte räusperte sich röchelnd. Das kühle Tuch musste ihn aufgeweckt haben, denn unter den geschlossenen Lidern bewegte sich etwas.
„Raja?“, hauchte der König kraftlos und öffnete die blutunterlaufenen Augen.
„Ja, СКАЧАТЬ