Eine große Zeit. William Boyd
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Название: Eine große Zeit

Автор: William Boyd

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783311701705

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СКАЧАТЬ bevor er die Familientradition wieder aufnahm und Musiklehrer wurde. Seinen alten Kontrabass bewahrte er im rissigen Lederkasten am Fußende des Bettes auf, an die Wand seines kleinen Zimmers ganz hinten im Flur gelehnt, das kleinste der drei Zimmer, die in der Pension Kriwanek zu mieten waren. Er behauptete, bei ihm könne man bis zu einem gewissen Leistungsniveau das Spielen sämtlicher »tragbaren sowie handlichen« Instrumente lernen – ob Streich-, Holzblas- oder Blechblasinstrumente. Lysander wusste nicht, ob es Schüler gab, die das Angebot nutzten, aber er nahm Herrn Barths zaghaften Vorschlag, den dieser ihm am Tag nach seinem Einzug in die Pension unterbreitete, dankend an – fünf Kronen sollte eine Stunde Deutsch kosten.

      Herr Barth nahm behäbig Platz, wischte sich mit beiden Händen ein paar Haarsträhnen vom Kragen und drohte Lysander lächelnd mit dem Finger.

      »Achten Sie auf die Vorsilben, Herr Rief. Nur so werden Sie unsere wunderschöne Sprache eines Tages beherrschen.«

      »Heute möchte ich gern Zahlen üben«, antwortete Lysander in fehlerfreiem Deutsch.

      »Ach ja, die Zahlen – die haben es in sich.«

      Eine Stunde lang spielten sie pflichteifrig alles durch – das Zählen an sich, Jahreszahlen, Preise, Wechselgeld, Addition und Subtraktion –, bis Lysander von lauter babylonischem Zahlengewirr der Kopf schwirrte und die Essensglocke läutete. Da Herr Barth nur für Frühstück und Logis bezahlte, zog er sich zurück, während Lysander den getäfelten Speiseraum am anderen Ende des Flurs ansteuerte, wo ihn Frau Kriwanek höchstpersönlich erwartete.

      Frau K, wie sie insgeheim von ihren drei Pensionsgästen genannt wurde, war der Inbegriff von Anstand und Frömmigkeit. Eine Witwe in den Vierzigern, die traditionelle österreichische Kleidung trug – in erster Linie moosgrüne Dirndl mit bestickten Blusen und Schürzen sowie klobige Schnallenschuhe – und sich einer derart überzogenen Höflichkeit befleißigte, dass sie höchstens für die Dauer einer Mahlzeit zu ertragen war, wie Lysander rasch festgestellt hatte. In ihrer Welt waren ausschließlich Menschen, Ereignisse und Dinge enthalten beziehungsweise zugelassen, die entweder angenehm oder erfreulich waren. So lauteten ihre Lieblingsattribute, die sie bei jeder erdenklichen Gelegenheit verwendete. Der Käse war angenehm, das Wetter erfreulich. Die junge Gemahlin des Kronprinzen machte einen angenehmen Eindruck, das neue Postamt war erfreulich gelungen. Und so weiter.

      Lysander lächelte ihr unverbindlich zu, als er an der Tafel seinen Stammplatz einnahm. Er spürte förmlich, wie die Jahre von ihm abfielen: Frau K gab ihm das Gefühl, wieder ein Halbwüchsiger zu sein – jünger sogar, präpubertär. Ihre Anwesenheit entmannte ihn, wirkte seltsam einschüchternd und ehrfurchtgebietend; er erkannte sich dann selbst nicht wieder – wurde zu einem Mann ohne eigene Meinung.

      Er sah noch ein drittes Gedeck – für den anderen Pensionsgast, Leutnant Wolfram Rozman, der offenbar nicht da oder spät dran war. Das Abendessen begann um Punkt acht Uhr. Frau K schätzte Lysander sehr – er war angenehm und erfreulich und noch dazu Engländer (angenehme Leute) –, doch den Leutnant schätzte sie wohl weniger, wie Lysander intuitiv erfasste. Er war nicht sehr angenehm, geschweige denn erfreulich.

      Leutnant Wolfram Rozman hatte sich etwas zuschulden kommen lassen. Was genau, wusste niemand, aber sein Aufenthalt in der Pension Kriwanek deutete darauf hin, dass er in Ungnade gefallen war. Irgendeine Regimentsangelegenheit, hatte Lysander von Herrn Barth gehört. Man habe den Leutnant wegen des wie auch immer gearteten Skandals zwar nicht unehrenhaft entlassen, aber vorläufig aus der Kaserne verwiesen, sodass er gezwungen war, so lange hier zu wohnen, bis ein Urteil gefällt und über seinen Verbleib in der Armee entschieden wurde. Das schien den Leutnant nicht übermäßig zu stören, soweit Lysander beurteilen konnte – offenbar weilte er bereits seit fast sechs Monaten in der Pension –, aber je länger er blieb, desto unangenehmer wurde er in den Augen von Frau K. Auch wenn Lysander dem Austausch zwischen beiden erst seit zwei Wochen beiwohnte, war ihm aufgefallen, wie der Ton sich deutlich verschärfte, die Förmlichkeit zunehmend frostiger wurde.

      Lysander mochte Wolfram – wie er ihn fast umgehend nennen durfte und sollte –, wohlweislich gab er das Frau K gegenüber aber nicht zu erkennen. Nun bedachte sie ihn mit ihrem dünnen Lächeln und läutete nach dem Dienstmädchen. Gleich darauf tauchte das Mädchen namens Traudl mit einer Suppenterrine auf, die klare Kohlsuppe mit Croûtons enthielt. Das war stets der erste Gang in der Pension Kriwanek, sommers wie winters. Traudl, eine Achtzehnjährige mit rundem Gesicht, die jedes Mal errötete, wenn sie sprach oder angesprochen wurde, setzte die Terrine so abrupt auf dem Tisch ab, dass die Suppe zweimal überschwappte und ein Teil auf der blütenweißen Decke landete.

      »Für die Reinigung dieser Decke wirst du selbst aufkommen, Traudl«, sagte Frau K, ohne die Stimme zu erheben.

      »Aber gern doch, gnädige Frau«, antwortete Traudl, errötete, machte einen Knicks und ging.

      Frau K sprach das Tischgebet, mit geschlossenen Augen und erhobenem Kopf – Lysander senkte seinen –, und teilte für sie beide klare Kohlsuppe mit Croûtons aus.

      »Der Leutnant ist spät dran«, bemerkte Lysander.

      »Er hat für das Essen bezahlt, es liegt an ihm, ob er es auch einnimmt.« Wieder lächelte sie Lysander an. »Hatten Sie einen angenehmen Tag, Herr Rief?«

      »Äußerst angenehm.«

      Nach dem Essen (Paprikahuhn) war es Brauch, dass Frau K den Speiseraum verließ und die Herren rauchen durften. Lysander zündete sich eine Zigarette an; nun, da Frau K gegangen war, wurde er wieder er selbst und fragte sich wie jedes Mal, wenn er ihre Gesellschaft genossen hatte, ob er in ein Hotel oder in eine andere Pension ziehen sollte, doch als er das Für und Wider erwog, wurde ihm klar, dass er sich in der Pension Kriwanek eigentlich sehr wohl fühlte und – abgesehen von der täglichen Mahlzeit mit Frau K – alles nach seinen Wünschen verlief.

      Tatsächlich war die Pension eine große Wohnung im dritten Stock eines recht neuen Gebäudes, auf der Südseite eines Hofes jenseits der Mariahilfer Straße gelegen, etwa 800 Meter vom Ring entfernt. Sie war mit einer Warmwasserheizung und elektrischem Licht ausgestattet; das großzügige Badezimmer, das von allen Gästen genutzt wurde, war modern (Toilette mit Wasserspülung) und sauber. In einer Agentur hatte Lysander sich eine Liste von Pensionen geben lassen, die ihm ein komfortables Schlafzimmer mit geräumigem Kleiderschrank sowie einen zuverlässigen Wäschedienst boten (er hatte sehr genaue Vorstellungen, was die Stärkung seiner Hemden anging), außerdem sollte eine Tramhaltestelle in der Nähe sein. Die Pension Kriwanek war die erste auf seiner Besichtigungstour, und als er sah, dass das Zimmer aus einem Salon, einem durch Vorhänge abgetrennten Alkoven samt Doppelbett und einer kleinen Schrankkammer bestand, die als Ankleidezimmer diente, mit ausreichend Regalen und Stauraum für seine Garderobe, machte er sich nicht die Mühe weiterzusuchen. Und das hatte ihn vermutlich dazu bewogen, nach dem Essen über einen Umzug nachzudenken – hätte er nicht erkunden sollen, was in Wien sonst noch möglich war? Doch hier hatte er immerhin einen Hauslehrer, das durfte er nicht außer Acht lassen.

      Betrat man die Wohnung im dritten Stock, gelangte man durch die Flügeltüren zunächst in eine große Diele – groß genug für zwei Bergères mit Rohrlehnen und einen runden Tisch, in dessen Mitte eine ausgestopfte Eule unter einer Glasglocke thronte. Von der Diele führte ein langer Flur zum Speiseraum, zu den drei Gästezimmern – in denen Lysander, Wolfram und Herr Barth untergebracht waren – und zum gemeinsamen Bad. Am Ende des Flurs befand sich eine Tür mit dem Schild »Privat«; dahinter vermutete Lysander den Küchenbereich und die Gemächer von Frau K. Nie hatte er gewagt, durch diese Tür zu gehen. Da auch Traudl in der Pension wohnte, musste sie dort irgendwo ein Eckchen für sich haben. Allem Anschein nach verlief parallel zum Flur noch ein schmaler Dienstbotengang von der Küche zum Speiseraum – der mit zwei Türen ausgestattet war –, doch davon abgesehen, hatte Lysander nur eine vage Vorstellung vom Grundriss der Pension СКАЧАТЬ