Er bog um die nächste Ecke und stieß auf eine kleine Sammlung von Zeichenblöcken und Notizbüchern. Nachdem er eine Weile gestöbert hatte, nahm er eine mehrere hundert Seiten starke Kladde in die Hand, fast so dick wie ein Lexikon. Nein, die nicht – zu entmutigend, gefragt war ein bescheidenerer Umfang, den er auch wirklich zu füllen vermochte. Er entschied sich für ein Notizbuch mit einem biegsamen schwarzen Ledereinband, feines Papier, unliniert, 150 Blätter. Es lag gut in der Hand und würde in die Jackentasche passen, wie ein Reiseführer – ein Reiseführer zu seiner Seele. Perfekt. Ihm fiel gleich ein Titel ein: Autobiographische Untersuchungen von Lysander Rief … Das klang doch genau nach dem, was Bensimon –
»Und schon sehen wir uns wieder.«
Lysander drehte sich um und erblickte Miss Bull. Eine liebenswürdige, lächelnde Miss Bull.
»Sie kaufen wohl Ihr Notizbuch?«, stellte sie wissend fest. »Bensimon sollte hier Provision bekommen.«
»Wollen Sie auch eins kaufen?«
»Nein. Meins habe ich nach wenigen Wochen aufgegeben. Worte liegen mir nicht besonders. Ich bin ein visueller Mensch, sehe alles in Bildern, nicht in Sprache. Ich würde lieber zeichnen als schreiben.« Sie zeigte ihm, was sie kaufen wollte: einen kleinen Satz seltsam geformter stumpfer Messer, einige mit konischer Spitze, andere mit dreieckiger Klinge, wie Miniatur-Maurerkellen.
»Damit können Sie aber nicht zeichnen«, sagte Lysander.
»Bildhauerei«, erklärte sie. »Ich will bloß mehr Ton und Gips bestellen. Es gibt in dieser Stadt keinen besseren Laden als WKM.«
»Eine Bildhauerin – das ist ja interessant.«
»Nein. Bildhauer.«
Lysander nickte verlegen. »Natürlich.«
Miss Bull trat auf ihn zu und sprach mit leiserer Stimme.
»Ich möchte mich gern für mein Verhalten von heute Morgen entschuldigen …«
»Dazu besteht doch kein Anlass.«
»Ich war ein bisschen … überreizt. Ich hatte nämlich keine Medizin mehr. Darum musste ich Dr. Bensimon so dringend sehen – wegen meiner Medizin.«
»Sicher. Dr. Bensimon gibt also auch Medizin aus?«
»Eigentlich nicht. Aber er hat mir eine Spritze gegeben. Und mich mit Nachschub versorgt.« Sie tätschelte ihre Handtasche. »Das Zeug wirkt Wunder – Sie sollten es ausprobieren, falls Sie mal ein kleines Tief haben.«
Bei ihr hatte Dr. Bensimons Medizin offensichtlich einiges bewirkt, sie kam Lysander viel ausgeglichener und selbstbewusster vor. Sie schien irgendwie alles im Griff –
»Sie haben ein ausgesprochen interessantes Gesicht«, sagte Miss Bull.
»Danke.«
»Ich würde Sie gern porträtieren.«
»Tja, ich bin etwas in –«
»Es muss ja nicht sofort sein.« Sie wühlte in ihrer Tasche und zog eine Visitenkarte hervor. Lysander las: Miss Esther Bull, Künstler und Bildhauer. Unterricht auf Anfrage. Darunter stand eine Adresse in Bayswater, London.
»Nicht mehr ganz aktuell«, sagte sie. »Jetzt bin ich schon seit zwei Jahren in Wien. Meine Telefonnummer steht auf der Rückseite. Wir haben uns gerade ein Telefon installieren lassen.« Sie blickte ihn herausfordernd an. Lysander war der Plural nicht entgangen. »Ich lebe mit Udo Hoff zusammen«, sagte sie.
»Udo Hoff?«
»Der Maler.«
»Ach. Jetzt, wo Sie es sagen – ja. Udo Hoff.«
»Haben Sie ein Telefon? Wohnen Sie im Hotel?«
»Weder noch. Ich wohne in einer Pension. Ich weiß nicht, wie lange ich bleiben werde.«
»Sie müssen unbedingt im Atelier vorbeischauen. Schreiben Sie mir Ihre Adresse auf. Dann schicke ich Ihnen eine Einladung zu einem unserer Feste.«
Sie reichte ihm einen Zettel aus ihrer Handtasche und Lysander notierte seine Adresse. Etwas widerwillig, wie er sich eingestehen musste, weil er in Wien allein sein wollte: um sein Problem zu lösen – seine Anorgasmie, wie es nun hieß. Er ganz allein. Im Grunde hatte er weder das Bedürfnis noch den Wunsch nach Gesellschaft. Er gab ihr den Zettel zurück.
»Lysander Rief«, las sie laut. »Habe ich schon mal von Ihnen gehört?«
»Wohl kaum.«
»Und ich heiße übrigens Hettie«, sagte sie, »Hettie Bull«, und streckte ihm die Hand entgegen. Lysander schüttelte sie. Hettie Bull hatte einen bemerkenswert festen Griff.
5 Der Strom der Lust
»Warum hat mich die Begegnung mit HB so aufgewühlt? Und warum verspüre ich diese leichte Erregung? Sie ist überhaupt nicht mein Typ, dennoch habe ich jetzt schon das Gefühl, in ihr Leben, in ihre Umlaufbahn hineingezogen zu werden, ob ich will oder nicht. Warum? Und wenn wir uns bei einem Konzert oder einer privaten Feier kennengelernt hätten? Dann hätten wir sicher nicht das geringste Interesse füreinander aufgebracht. Weil wir uns aber im Wartezimmer von Dr. Bensimon begegnet sind, haben wir bereits etwas sehr Intimes übereinander erfahren. Könnte das die Erklärung sein? Die Verletzten, Unvollendeten, Unausgeglichenen, Gestörten, Kranken finden zueinander: Gleich und Gleich gesellt sich gern. Sie wird mich nicht in Ruhe lassen, das weiß ich. Aber ich will gar nicht zu Udo Hoff ins Atelier, wer immer das sein mag. Ich bin nach Wien gekommen, um meinen Mitmenschen aus dem Weg zu gehen, und habe fast niemandem gesagt, wohin ich fahre, auf Nachfragen hin immer nur ›ins Ausland‹ geantwortet. Mutter weiß Bescheid, Blanche, Greville natürlich, und eine Handvoll anderer. Für mich soll Wien eine Art schönes Sanatorium mit lauter Fremden sein – als litte ich an Schwindsucht und wäre bis zur erfolgreichen Heilung einfach untergetaucht. Blanche würde HB wohl nicht mögen. Ganz und gar nicht.«
Lysander hörte ein unmerkliches Klopfen an seiner Tür – eher ein Kratzen. Er legte den Füller aus der Hand, klappte das Notizbuch zu – seine Autobiographischen Untersuchungen – und verstaute es in der Schreibtischschublade.
»Kommen Sie hinein, Herr Barth«, sagte er.
Herr Barth trat auf Zehenspitzen ein und schloss die Tür, so leise es nur ging. Trotz seiner Leibesfülle versuchte er stets, sich möglichst still und unauffällig zu verhalten.
»Nein, Herr Rief. Nicht hinein, sondern herein.«
»Verzeihung«, sagte Lysander und stellte einen weiteren Stuhl an den Schreibtisch.
Herr Barth war Musiklehrer und stammte überdies von einer langen Ahnenreihe von Musiklehrern ab. Sein Vater hatte 1836 Paganini spielen sehen, und als einige Jahre später sein erster Sohn zur Welt kam, nannte er ihn Nikolas zum Gedenken an das Ereignis. Als junger Mann hatte sich Herr Barth voll und ganz mit dem Vorbild identifiziert, ließ sich lange Haare und einen Backenbart wachsen wie Paganini, ohne diesen Stil jemals aufzugeben. Sogar jetzt, mit bald siebzig, färbte er sich die langen grauen Haare und den Backenbart einfach schwarz und trug nach wie vor altmodische СКАЧАТЬ