Название: Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat
Автор: Demian Lienhard
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Debütromane in der FVA
isbn: 9783627022709
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Natürlich hatte der Novak unrecht. Sicher, seine Analogien aus dem zwischenmenschlichen Bereich, mit denen er uns erklärte, was freie Elektronen sind und was Wasserstoffbrücken, haben sich immer gut angehört und manchmal waren sie sogar hilfreich fürs Verständnis. Dass ich so gute Noten schrieb bei ihm, hatte damit allerdings nichts zu tun. Es hing einzig und allein mit der Prüfungsform zusammen: Novak machte offene Prüfungen. – Ihr sollt nicht auswendig lernen, sagte er mit einem Akzent, dem man die böhmischen Hügel auch zwölf Jahre später noch anmerkte, – ihr sollt denken lernen. Und weil wir nicht auswendig lernen sollten, durften wir alles mitnehmen, was wir wollten: Bücher, Ordner, Taschenrechner. Das klingt einfacher, als es war: Die Fragen, die waren wirklich schwer. So mancher aus meiner Klasse hat eine schlechte Prüfung nach der anderen geschrieben.
Ich hatte Glück. Eine Nachbarin von mir, die einige Jahre älter ist als ich, ist bei den Pfadfindern gewesen. Sie und einige ihrer Leiterinnen hatten alle beim Novak Chemie gehabt und dabei sämtliche Prüfungen gesammelt, die sie zusammenbringen konnten. Als ich die Sammlung erhalten habe, umfasste sie bereits mehrere Ordner. Zwar waren die Prüfungen selten identisch, doch weil der Novak meistens nur die Zusammenstellung der Fragen und einige Zahlen verändert hatte in ihnen, in den Ordnern meiner Nachbarin für jedes Thema aber mehrere Prüfungen abgelegt waren, konnte man in der Sammlung jede der fünf Aufgaben finden.
Also: Weil ich die Woche zuvor gefehlt habe, muss ich am Nachmittag die Prüfung nachschreiben. Keine große Sache, denke ich. Novak reicht mir das Aufgabenblatt, schickt mich in ein leeres Zimmer. Den Ordner habe ich dabei, die alten Prüfungen sind hinten eingeheftet. Ich fühle mich unfehlbar wie der Papst.
Doch als ich die Fragen durchgehe, wird mir klar: Irgendwas ist anders diesmal. In vier von fünf Aufgaben sind die Zahlen verändert, und das kostet Zeit. Dazu kommt, dass zwei Aufgaben, die ich zwar in meinem Ordner finde, von keiner meiner Vorgängerinnen richtig beantwortet wurde: Überall das unleserliche Rot von Novaks Sauklaue. Als ich nach fünfundvierzig Minuten abgebe, weiß ich: Das war nichts. Die Note wird nicht ungenügend sein, aber das ist es nicht, was mich traurig macht. Wenn du immer erste Klasse fährst und dann plötzlich zweite, zählt der Umstand, dass du gleich schnell ans Ziel kommst, wenig. Dass deine Handflächen den Plüsch vermissen an den Armlehnen und deine Beine die Freiheit, das ist es, was schmerzt.
Marcel, die Chemieprüfung und am Abend, als ich endlich zu Hause anlange, die Schmerzen unter dem Haaransatz. Es kommt alles zusammen. Als ich die Tür hinter mir schließe, ein paar Kerzen anzünde, das Radio einschalte und mich aufs Bett fallen lasse, ist mir schwindlig.
Etwas liegt in der Luft, trällert einer im Hintergrund, ob ich geliebt werden könnte, fragt ein anderer. Normalerweise singe ich mit, wenn Phil Collins singt oder Bob Marley, und wenn ich den Text nicht mehr weiß oder ihn nicht verstehe, dann bewege ich zumindest den Mund dazu. Aber diesmal liegen mir die Gedanken zu schwer auf der Kehle und im Hals stauen sich eine ganze Menge Fragen: Liebt mich jemand? Meine Mutter vielleicht, aber das zählt nicht. Marcel? Nein. Janine? Nein. Muriel? Schon gar nicht. Else? Die war doch nur darauf aus, von mir abzuschreiben in Latein. Was ist mit den guten Noten? Pff. Bin ich beliebt? Fehlanzeige.
Ich stehe auf, mache das Radio aus. Auf der Stelle schwappt Stille ins Zimmer, füllt jeden Winkel aus. Ich reiße die Fenster auf, dass die Scheiben zittern im spröd gewordenen Kitt, und lehne mich mit verschränkten Armen auf den Sims. Weiße Flocken fallen lautlos aus dem schwarzen Himmel. Vor mir ein Feld und dahinter, aufgereiht wie auf einer Perlschnur, Laternen und unter ihnen gelbe Indianerzelte aus Licht, die in der Nacht hängen mit ihrem steilen Dach. Alles ist still, alles ist dumpf, nur ab und an trägt ein leichter Luftzug das Rauschen eines Baches aus dem Wald heran und bricht in die Stille ein für eine Sekunde oder zwei, dann ist es wieder still draußen und dumpf und dumpf und still ist es auch in mir drin. Ich versuche, mit dem Blick den brüchigen Stäben auszuweichen, die sich vom Boden hinauf bis unter den Himmel stapeln und weiß flimmern vor mir und schwarz wie im Wald die Birken, und jetzt erinnere ich mich, dass ich mich früher mit meiner Schwester hinaus auf die Wiese gelegt habe, auf eine andere Wiese als diese, und dass wir, wenn es regnete, stundenlang in den grauen Himmel starrten, bis es uns unsere Mutter verboten hat, weil ich mir eine Lungenentzündung geholt habe. Und weil wir nicht mehr hinausdurften, wenn es regnete, blieb uns nichts anderes übrig, als mit einem Taschenspiegel am Fenster zu sitzen und den Tropfen zuzuschauen, wie sie hinauffielen und uns ins Gesicht, das nie feucht wurde davon. Ich denke daran und ich denke an meine Schwester und darüber wird mir das Dasein übel. Ich bin allein, denke ich, umgeben von dieser Schicht aus ewiger Gegenwart, aus der ich nicht herauskann. Ich bin allein, denke ich und drehe mich um. Ich schaue ins leere Zimmer und sehe meinen Schatten, der da gefangen ist in ihm. Er tut mir leid, wie er da an der Raufasertapete hängt und weder ein noch aus weiß, so unendlich leid, dass ich ihn umarme.
Und weil ich einfach nicht weiß, was ich dagegen tun soll, mache ich, was man tut, wenn man nicht weiß, was man tun soll.
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