Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. Demian Lienhard
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Название: Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat

Автор: Demian Lienhard

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Debütromane in der FVA

isbn: 9783627022709

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СКАЧАТЬ sich wieder fängt. Dann hält er inne, lässt den Rucksack von seinen Schultern gleiten und lehnt ihn sorgfältig gegen einen Laternenpfahl. Er stellt sich ans Geländer, sein Blick geht nach unten, auf den Kanal und die Straße, die so heißt, auf das Mehrfamilienhaus, das die beiden voneinander trennt, das Kraftwerk und die Sporthalle, wo die Straße endet. Er zögert eine Sekunde, zieht sich dann am Laternenpfahl hoch und hebt ein Bein nach dem anderen über den Handlauf, erst das rechte, dann das linke. Während er sich mit der Rechten am Geländer festhält und mit der Linken den Laternenpfahl umklammert, lässt er langsam seine Beine hinuntergleiten, und als er den schmalen Vorsprung unter seinen rechten Zehen spürt, lässt er den Fuß sinken, bis er sicheren Halt findet, um dann erst den anderen abzustellen. Jede Bewegung kontrolliert, als hätte er sie schon hundertfach ausgeführt, alles behutsam und bedacht, so als fürchte er, im falschen Augenblick abzurutschen. Dann bekreuzigt er sich kurz und undeutlich, als würde er eine Fliege verscheuchen, und zwei Sekunden später ist er auch schon tot.

      Die Hochbrücke ist 21,3 Meter hoch. Bei Windstille fällt man 2,08 Sekunden und trifft mit einer Geschwindigkeit von 73,6 km/h auf den Asphalt. Die Straße unter der Brücke ist eine verkehrsarme Sackgasse, rund 500 Meter lang, die erlaubte Maximalgeschwindigkeit beträgt 60 km/h. Bis zum Jahresende stürzten sich fünf weitere Menschen hinunter, im vorletzten Jahr waren es vier, im Jahr zuvor drei. Null Komma acht sieben Todesopfer pro hundert Meter und Jahr, statistisch gesehen ist die Kanalstraße damit die tödlichste der Schweiz. Auf keinem Streckenabschnitt des Landes kommen mehr Menschen um pro hundert Meter.

      Was übrig bleibt, ist immer gleich: ein Haufen Fragen und ein Haufen zerkratztes Fleisch, ein paar Spinnfäden im Straßenbelag vielleicht, die im Herbst gekittet werden müssen, weil sie sich sonst mit Wasser füllen und Löcher in den Asphalt sprengen beim ersten Frost.

      Rolf wurde an seinem sechzehnten Geburtstag beigesetzt. Die Abdankung hat vorher stattgefunden, in der Waldhütte, die man für die Überraschungsfeier hergerichtet hatte, irgendwie fanden seine Eltern das originell. Stück für Stück zog irgend so ein Pfarrer winzige Zettel aus einem dieser Plastikbehälter, in denen man Lebkuchen aufbewahrt normalerweise, las sie vor und warf sie anschließend ins Feuer. Es waren Erinnerungen, die wir aufgeschrieben hatten zuvor und die von seiner Schwester eingesammelt worden waren. Die Bergwanderung zu zwei Dreitausendern, der Abscheu vor dem Schlossbergtunnel, der Ohnmachtsanfall auf der Schulreise zum Lago Maggiore und andere Belanglosigkeiten, zusammenhangslos wie Rolfs Leben. Der Pfarrer stockte, räusperte und wiederholte sich ständig. Die Erinnerungen ergänzte er nach Belieben, manche hat er frei erfunden. Er war weitsichtig, muss man wissen, und hatte seine Lesebrille vergessen.

      Das war knapp drei Monate, bevor Martina von der Brücke gesprungen ist und sechs Monate vor Kai. Unsere Klasse hatte damit bereits während des ersten Jahres drei Schüler verloren.

      Ganz schön viele Tote auf einmal, könnte man jetzt denken, aber das denke ich nicht.

      Im Tal, aus dem ich komme, ist das normal.

      Fünf

      Morgen ist heute. Wenn sich einer einmischt in etwas, wo er nicht hingehört: Das ist das Problem. Die Zukunft ins Jetzt.

      – Morgen gehst du wieder zur Schule, sagte meine Mutter und hielt mir das Thermometer hin: – 36,5 Grad, sagte sie.

      Dieses Morgen ist jetzt.

      Gestern habe ich gesagt: – Okay.

      Aber heute ist alles anders. Auch das Problem, weshalb ich nicht zur Schule gehen kann, ist ein anderes. Aber es bleibt eines. Und deswegen will ich nicht.

      In dreißig Minuten fängt die erste Stunde an. Wenn sich bis dann die drei Pickel nicht vollständig dahin zurückgezogen haben, wo sie hergekommen sind, setze ich keinen Fuß vor die Tür.

      Nach dem Aufstehen leuchten mir die Dinger im Spiegel entgegen wie Pistenfeuer. Drei Stück, auf der linken Wange. Ich kneife die Augen zusammen. Aber das hilft nicht. Sie sind noch immer da. Eins, zwei, drei. Groß und rund und prall. Das Ende einer gottverdammten Fonduegabel.

      – Du übertreibst, sagt meine Mutter.

      Da hat sie recht.

      – Stecknadelköpfe, sage ich.

      Meine Mutter lässt das Brot aus der Hand fallen. Es bleibt auf dem Teller liegen, mit der bestrichenen Seite nach unten. Als sie es aufhebt, liegt die Marmelade in gekräuselten Wellen über der Butter. Dazwischen kleben hellbraun die Brosamen.

      Meine Mutter seufzt.

      – Alba, du hast doch jetzt schon eine ganze Woche gefehlt.

      Das stimmt. Die Sache ist nur: Wenn deine Fieberkurve nach oben ausschlägt wie ein durchbrennendes Pferd, kannst du dich trotzdem ins Klassenzimmer setzen. Ich meine, das macht keiner und ich schon gar nicht. Aber du kannst. Und die Leute, die finden das gut. Deine Mutter findet das gut, der Lehrer findet das gut, sogar die Klasse findet das gut. Du schluckst eine Ponstan 500, die mit der hübschen Kerbe in der Mitte, und setzt dich ins Klassenzimmer. So einfach geht das. Mit Pickeln nicht.

      Aber das sage ich nicht. Ich sage:

      – Wenn du die Leute rausholst aus dem Tal, weil der Staudamm einen Riss hat, und dann reparierst du ihn und setzt einen Termin fest für die Leute, damit sie wieder zurückkehren können, wenn dann kurz vorher der Damm bricht, weil Unwetter ist oder irgendein Verrückter draufgeschossen hat mit seiner Panzerfaust, hältst du dann immer noch an deinem Termin fest?

      Der sitzt. Bestimmt. Wenn nicht, dann weiß ich auch nicht.

      Na ja.

      Meine Mutter schüttelt den Kopf.

      – Was sollen denn die Lehrer denken?

      – Was die denken sollen? Das ist denen doch so egal wie der Weltmarktpreis für Yakbutter …

      Meine Mutter springt auf und stößt den Tisch von sich weg.

      Sie brüllt:

      – Dass du schwänzt, und dass ich dich schlecht erzogen habe, das denken sie!

      Gut, das tut sie nicht wirklich, aber ich weiß, dass sie das denkt, und sie stößt auch den Tisch nicht weg. Nur ihre Lider fangen zu beben an, und ihre Lippen tun es. Was andere Menschen die Mienen durcheinanderwerfen lässt im ganzen Gesicht, führt bei meiner Mutter nur gerade dazu, dass sich ihr der Mund kräuselt und um die Augenwinkel die Haut. Damals zumindest noch.

      Und dann sagt meine Mutter das, was sie immer sagt, wenn sie gleich platzt vor Wut.

      – Alba, sagt sie, Alba …

      Meinen Namen sagt sie.

      Sonst sagt sie nichts.

      Also. Es ändert sich nichts an der Tatsache: Meine Mutter besteht darauf, dass ich in fünfzehn Minuten das Haus verlasse.

      Ich meine, diese gelben Dinger und der rote Krater ringsum. Vielleicht, dass sie einem Farbenblinden nicht aufgefallen wären. Aber Marcel ist nicht farbenblind. Und damit ist die Sache ausdiskutiert.

      Marcel. Damals, vor einem Jahr oder anderthalb, gehörte er zu den Kleinsten seiner Klasse. Aber als er zu uns kommt, fängt das mit dem Wachstum an. Er wächst und wächst und wächst und will gar nicht mehr aufhören damit. Er ist jetzt größer als alle anderen, СКАЧАТЬ