Название: Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat
Автор: Demian Lienhard
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Debütromane in der FVA
isbn: 9783627022709
isbn:
Marcel kümmert sich um gar nichts. Die Schule ist ihm egal. Und die Lehrer – erst recht. Seine Baumwolltrainerhosen trägt Marcel weiterhin, da kann der Rechsteiner noch lange herumfranzen an der Wandtafel vorne. Marcel sagt dann den einzigen Satz, den bis jetzt nicht einmal die drei Öfen pro Tag aus seinem Kopf gekriegt haben: – Je ne comprends pas. Er spricht dabei ziemlich vorsichtig und etwas unbeholfen, tastet sich Wort für Wort vor, als sagte er den Satz zum ersten Mal. Und der Rechsteiner streckt die Waffen.
Jedenfalls: Mit der französischen Sprache hat’s Marcel nicht so. Aber mit der deutschen dafür umso mehr. Reden kann der Marcel, da kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und gleichzeitig gut aussehen dabei. Das Sprechen, das ist ihm angeboren. Und das werfen ihm auch die Lehrer vor. Wiederholen haben sie ihn lassen. Erst Anfang August ist er zu uns gekommen, die Dritte macht er jetzt zum zweiten Mal. Fragt sich nur, wie lange noch. Denn: Des Wortwitzes wegen krümmt er gerne mal die Wahrheit. Daher auch das mit den Noten.
– Die heißen so, sagt er, – weil sie notwendig sind, verstehst du?
Ich nicke. Klar verstehe ich. Und ich verstehe auch, dass ich, wenn Marcel meine Mutter wäre, ganz sicher nicht mit drei Sprengkörpern im Gesicht zur Schule gehen müsste. Allerdings – es gäbe in diesem Fall auch weniger Anlass zu schwänzen, weil es dann keinen Marcel in der Schule gäbe. Und ich mit dem Marcel daheim nicht das …, was ich eigentlich …
Ja.
Also: Es gibt zwei Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen. Der Vorschlag meiner Mutter fällt da nicht hinein.
Entweder drücke ich meine linke Gesichtshälfte während neun Lektionen gegen die Wand oder: Ich bleibe zu Hause. Ich entscheide mich für Letzteres. Ich bin Realistin, muss man wissen.
Das kann man von meiner Mutter leider nicht behaupten. Aber das ist es nicht, was mich beunruhigt. Es ist etwas anderes: Sie will mich zur Schule fahren.
– Nicht, dass du dir gleich wieder was einfängst auf dem Weg, sagt sie und legt mir den blau-gelb gestreiften Wollschal um den Hals, streicht mir übers Haar und schiebt mich hinaus in die Dunkelheit, damit ich das Tor schließen kann, wenn sie aus der Garage gefahren ist.
Vielleicht ist sie wirklich etwas in Sorge, aber vielleicht befürchtet sie auch einfach, dass ihre Tochter genau das vorhat, was sie nämlich vorhat: pünktlich die Wohnung zu verlassen und genauso pünktlich nicht zum Unterricht zu erscheinen.
In ihrer Bestürzung, dass man das Autonome Zentrum in Zürich geschlossen hat, ist eine junge Frau an einem Freitagmorgen zum Bellevue gegangen, hat sich mit Benzin übergossen und angezündet. An jenem Nachmittag, an dem sie im Krankenhaus an ihren Verletzungen starb, habe ich Marcel kennengelernt. Das war vor sechs Wochen. Das heißt, ich kenne Marcel vielleicht seit fast einem halben Jahr, aber kennengelernt habe ich ihn erst an jenem Freitag.
Vorher wusste ich nur, dass er sitzengeblieben war und dass er sich angeblich zusammen mit Albert Hofmann höchstpersönlich einen LSD-Trip geschmissen hat oben auf der Allmend. Jetzt weiß ich, dass er Bananen liebt, die so braun sind, dass es für die Gesundheit bedenklich wird, dass er Olympic Decathlon, Space Invaders und Battlezone spielt und dass das mit dem Trip Quatsch ist. – Das war gar nicht auf der Allmend, sagt er, – sondern drüben auf dem Chrüzliberg.
Ich würde sagen, die beiden wollten’s wissen. Ganz schön gefährlich mit all den Felsabbrüchen ringsum.
Die Sache mit Marcel war ziemlich heikel, weil: Ich bin nicht so der Typ, der dem anderen einfach einmal die Hand hinstreckt und sagt: – Hei, ich bin Alba, wie geht’s denn so? Also warte ich, bis sich Franz mit ihm angefreundet hat und stelle mich dann, während der Pause, unauffällig in die Runde. Und als Franz einen Witz reißt, den ich vergessen habe, sage ich … Das habe ich auch vergessen, und zwar deshalb, weil jetzt genau das geschieht, was mich hat vergessen lassen, was ich zuvor gesagt habe: Marcel schaut mich an, schiebt die aufeinandergepressten Lippen vor und nickt anerkennend. Und dann zeigt er seine riesigen Zähne, groß und vom Rauchen verfärbt wie von einem alten Klavier die gelben Tasten, und ein Röhren und Glucksen kommt ihm aus der Kehle, als hätte man irgendwo in der Gegend eine Hirschkuh angefahren und am geteerten Rand liegen gelassen, ohne dem Wildhüter Bescheid zu sagen. Sofort weiß ich: Den Typen werde ich lieben bis ans Ende meines Lebens. Und so falsch lag ich damit gar nicht.
Also: Ein Vierteljahr warten und dann gut anderthalb Monate harte Arbeit, da denke ich gar nicht erst daran, mir an einem einzigen Tag alles wieder zunichte zu machen.
Sicher, meine Mutter fährt mich zur Schule. Aber ich, ich habe vorgesorgt. Ich lasse mich nämlich an der Bushaltestelle beim Altersheim absetzen, halte ihr das präparierte Absenzenheft unter die Nase, damit sie ihre Unterschrift draufsetzen kann, und danach, hinter dem Erdwall, geht’s ab durch die Hecken: auf dem Trampelweg durchs Dickicht hinter dem Sportplatz, dann in einem großen Bogen hinab zum Schloss, über die hölzerne Brücke und wieder hinauf in die Stadt.
So stelle ich mir das zumindest vor. Aber der Plan haut nur gerade hin bis zum Punkt mit dem Absenzenheft. Meine Mutter nämlich setzt ihre Unterschrift drauf, kratzt mir mit ihren spröden Lippen einen Kuss auf die Stirn und zieht den Riegel hoch an der Beifahrertür. Ich steige aus, den Stift noch in der Hand und den linken Daumen zwischen die Seiten geklemmt, wo jetzt die Manipulation fällig ist. Ich nehme die beiden Stufen hoch zum Durchgang, öffne hinter der ersten Biegung das Heft und setze den Stift da an, wo die zweite Zwei so klein geschrieben ist, dass sie aussieht wie hochgestellt, und lasse so mit einem winzigen Häkchen, das ich unten anfüge, vierundzwanzig Stunden verfliegen, mache aus dem 22. einen 23. Januar.
Und dann, als ich die Ziffer noch einmal überprüfe, geschieht es: Hinter der Biegung taucht der Rechsteiner auf. Gut, es hätte schlimmer kommen können. Wenn er die Aktion mit dem Absenzenheft beobachtet hätte zum Beispiel. Aber dass er weiß, dass ich hier bin und das noch nicht einmal sterbenskrank, ist schlimm genug.
– Bonjour, mademoiselle Alba, sagt er, und: – Comment allez-vous? Und: – J’espère que vous êtes complètement rétablie. Und während er mir Löcher in den Bauch fragt wegen meiner Grippe, begleitet er mich bis ins Schulzimmer.
Ich sitze in der Falle.
Aber immerhin: Zwar ist das Schulzimmer nicht leer, wie ich mir das wünsche, als der Rechsteiner mit mir im Schlepptau den Raum betritt, aber wenigstens ist Marcel nicht da. Und das bleibt auch für die nächsten drei Stunden so.
Bis zur großen Pause.
Als sie mich gefragt haben einen Tag oder zwei danach, weshalb das alles passiert sei, sagte ich, ich wüsste es nicht, oder ich sagte irgendetwas, was wahrscheinlich klang. Aber ich wusste nicht, weshalb das geschehen war, was dann geschah.
Gründe kommen einem erst Jahre später in den Sinn. Viele, nicht einer, so wie es eben auch nicht nur der Torwart ist, der für die letzte Schande im Letzigrund verantwortlich ist, auch wenn das alle sagen, und es fallen einem auch nicht alle Gründe auf einmal ein, sondern erst einer und dann noch einer und dann wieder einer.
Wenn man also etwas gewartet hätte mit den blöden Fragen damals im Krankenhaus, wenn man zwei oder drei oder fünf oder sieben Wochen gewartet hätte, dann hätte ich ihnen von dieser großen Pause erzählt. Es war eigentlich eine Pause wie immer, und weil Winter war, haben sie alle drinnen verbracht, im Bunker, vor der Mensa. Nur die Raucher, die standen draußen unter dem Vordach oder vor den Seitentüren des Bunkers, aber ich habe ja noch gar nicht geraucht damals.
Der СКАЧАТЬ