Название: Ein Schuss kommt selten allein
Автор: Johanna Hofer von Lobenstein
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Jons übernatürliche Fälle
isbn: 9783948457037
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KAPITEL 1
Durch den halb durchlässigen Spiegel, der mich vom Verhörraum trennte, starrte ich die sehr, sehr schuldige Frau an, die Detective Borrowman gegenübersaß. Er hatte mir den Rücken zugewandt, konnte mich aber über einen unsichtbaren Knopf im Ohr hören. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass es für ihn am einfachsten und schmerzlosesten war, mit mir zu kommunizieren, wenn wir ein Walkie-Talkie mit offenem Sendekanal benutzten. Es lehnte am Spiegel, und die Sprechtaste war festgeklebt, sodass ich ständig auf Sendung war. Solange ich das Gerät nicht anfasste, würde es überleben.
Seit drei Jahren spielte ich nun schon Lügendetektor für die Polizei. Weil ich während der Vernehmung Hinweise darauf geben konnte, welche Fragen die Ermittler stellen oder in welche Richtung sie weiter nachbohren sollten, zogen sie mich der Maschine vor. Das bloße Ja/Nein-Schema der technischen Geräte brachte die Ermittler oft nicht weiter. Borrowman war einer meiner Lieblingsbeamten, ein guter Polizist und ein richtig netter Kerl. Außerdem hatte er Geduld mit mir und meinen Besonderheiten.
Und davon hatte ich so einige.
Man musste dazusagen, dass ich sie mir nicht ausgesucht hatte.
»So, Mrs Turnbull, lassen Sie mich noch einmal wiederholen. Ich möchte sichergehen, dass ich alles richtig notiert habe.« Demonstrativ las Borrowman aus seinen Notizen vor: »Sie hatten keine Ahnung, dass Ihr Mann ein Verhältnis hatte.«
»Richtig«, antwortete sie, die Lippen so fest zusammengepresst, dass sie fast nicht mehr zu sehen waren – und das trotz des großzügig aufgetragenen knallroten Lippenstifts.
»Lüge«, informierte ich Borrowman. »Sie wusste Bescheid.«
Borrowman, der es gewohnt war, meine Stimme im Ohr zu haben, zuckte nicht mal mit der Wimper. »George Turnbull hat zehntausend Dollar für Hotelzimmer, Blumen, Wochenendreisen und ein paar sehr schöne brillantenbesetzte Manschettenknöpfe ausgegeben, alles für Ihren Nachbarn, und Sie haben nichts geahnt? Noch nicht mal einen Verdacht gehabt?«
»Nein. Ich hatte keine Ahnung, dass mein Mann einen anderen Mann gevögelt hat«, zischte sie. Die zarten Fingerknöchel ihrer verkrampften Hände schimmerten weiß.
Ich schüttelte den Kopf und betrachtete die Frau mitleidig. Sie hatte sehr wohl gewusst, was los war. Sie hatte es gewusst, und in ihr brannten Hass, Abscheu und das Gefühl, verraten worden zu sein. Die energetischen Meridiane, die sich in ihrem Körper zusammengeballt hatten, leuchteten wie Neon-Schriftzeichen – für andere Menschen unsichtbar, aber für mich wie ein offenes Buch. Nur Menschen mit übersinnlichen Kräften waren in der Lage, sie zu erkennen, auch wenn eine Begabung wie meine ziemlich selten war. Mir war jedenfalls noch nie jemand mit Fähigkeiten wie meinen begegnet. Es hatte Jahre gedauert, bis ich mir selbst beigebracht hatte, die Farben, Linien und Lichtblitze, die ich in anderen Menschen sah, zu deuten. Und obwohl meine Gabe nützlich war, fühlte ich mich von all diesem Wissen oft genug überwältigt.
Bei Mrs Turnbull nahm ich hauptsächlich Wut und Schmerz wahr. Die Linie an ihrem Herz-Chakra flammte rot vor Zorn, tief und fast schwarz deutete sie gleichzeitig auf tödlichen Hass hin. In diesem Fall war das recht passend, denn um ihren Solarplexus herum bemerkte ich Flecken von dem übelkeiterregenden Grauweiß, das gleichbedeutend mit Mord war. Kein Zweifel: Sie hatte ihren Mann umgebracht.
Leider würde meine Aussage allein nicht ausreichen, um sie hinter Gitter zu bringen. Gutachten von Kriminalmedien – so die offizielle Bezeichnung für Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten, die in der Verbrechensaufklärung tätig waren – konnten zwar vor Gericht verwendet werden, vorausgesetzt, das Medium besaß die entsprechende Zulassung. Ihre Aussage musste aber durch weitere Beweismittel gestützt werden. Darum ging es gerade in diesem Verhör.
Borrowman lehnte sich zurück und trommelte mit den Fingern ein schnelles Dreierstakkato auf die Tischplatte. Das war unser vereinbartes Signal dafür, dass er einen Hinweis von mir brauchte, um fortzufahren.
Ich beugte mich näher zu dem Walkie-Talkie. »Sie ist sehr homophob und fühlt sich überhaupt nicht schuldig wegen des Mordes. Deuten Sie an, dass Sie Verständnis für ihren Abscheu wegen der Affäre haben.«
»Mrs Turnbull, ich kann Ihre Situation wirklich gut nachvollziehen. Es war bestimmt schwer, erkennen zu müssen, dass Ihr Mann eine Affäre hatte, das hört ja niemand gerne. Aber dass es sich um einen Mann handelt? Sie müssen ja völlig entsetzt gewesen sein, als Sie erfahren haben, dass Ihr Mann schwul war.«
Borrowman klang absolut aufrichtig, und ich zollte ihm im Stillen Beifall für seine überzeugende schauspielerische Leistung. Ich wusste genau, dass er kein Problem mit anderen sexuellen Orientierungen hatte. Borrowman selbst war zwar ganz und gar hetero, aber als ich ihm eröffnet hatte, dass ich schwul war, hatte er noch nicht mal gezuckt. Es war einer der vielen Gründe dafür, dass ich ihn so mochte.
Mrs Turnbull blickte auf, und ein Ausdruck von Schmerz huschte über ihr Gesicht, in das sich weitere Falten gruben. Sie war, wenn man Frauen bevorzugte, sicher nicht unattraktiv, Ende vierzig und für ihr Alter gut aussehend, wenn sie nicht gerade einen Gesichtsausdruck hatte wie Cruella De Vil. Vielleicht waren es auch die schwarzen Haare und die blasse Haut, die mich an eine Hexe erinnerten.
»Ja. Ja, ›entsetzt‹ ist genau das richtige Wort. Fünfzehn Jahre lang waren wir verheiratet, und im Großen und Ganzen auch glücklich. Und dann fängt er auf einmal an … Wie sollte ich so etwas meiner Familie beibringen? Den Leuten in meiner Kirchengemeinde? Wir sind gute, moralische Menschen, und er war …« Sie brach ab und starrte in ihrem selbstgerechten Zorn finster vor sich hin.
»Komisch«, überlegte ich laut, »einen Mord zu begehen, ist anscheinend moralisch weniger verwerflich, als schwul zu sein.«
Borrowman hätte bestimmt amüsiert geschnaubt, wenn er gekonnt hätte. Sein Humor war genauso schwarz wie meiner. »Verstehe. Natürlich hat Sie das aufgebracht. Also haben Sie seine Kreditkarte zerschnitten. War das das Erste, was Sie taten, als Sie ihn zur Rede gestellt haben?«
»Allerdings«, zischte sie. Es hörte sich an wie ein Teekessel kurz vor dem Kochen. »Ich habe meine Handarbeitsschere genommen und sie direkt vor seiner Nase mittendurch geschnitten. Und dann habe ich ihm gesagt, dass ich weiß, was er getan hat.«
»Wirklich? Offen gestanden hätte ich wahrscheinlich das Gleiche gemacht. Wissen Sie zufällig noch, wo die Schere geblieben ist? Bei den Beweisstücken habe ich sie, glaube ich, nicht gesehen.«
Einen Augenblick wirkte sie verunsichert, schaute zur Seite, und zum ersten Mal schien sich ihr Überlebensinstinkt zu melden. Die Frage war ihr unangenehm. »N… nein, das weiß ich nicht mehr. Ich war so außer mir, dass ich gar nicht klar denken konnte.«
»Gelogen. Sie weiß ganz genau, wo die Schere ist«, korrigierte ich sofort. Jetzt wurde ich hellhörig, denn gerade kamen wir ein Stück weiter. Die Autopsie hatte ergeben, dass es sich bei dieser Schere mit neunzigprozentiger Sicherheit um die Mordwaffe handelte. Sie war nur bislang nicht auffindbar.
»Ja, das ist natürlich verständlich«, sagte Borrowman beruhigend. »Und dann? Sie haben wahrscheinlich nicht nur die Kreditkarte zerschnitten, oder? Also, wenn meine Frau wütend auf mich ist, bekomme ich jedenfalls ganz schön was zu hören. Sie hatten doch sicher so einiges auf dem Herzen.«
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