Название: Dekonstruktion
Автор: Peter Engelmann
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Passagen forum
isbn: 9783709250143
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1.3Dekonstruktion und Aufklärung
Wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt wurde, sind die zeitgenössischen französischen Differenzphilosophien in einer Umgebung verfestigter Strukturen entstanden, die sich aus allgemeinen Prinzipien legitimierten. Sie sind zu einem Zeitpunkt entstanden, an dem die totalitären oder die Demokratie aushöhlenden Aspekte solcher Strukturen zunehmend sichtbar wurden, und sie wurden breitenwirksam, als das Bewusstsein über diesen Zusammenhang sich ausbreitete. In dem Maße, wie sich in den 1960er Jahren die neuen differenzphilosophischen Ansätze durchsetzten, verlor die bis dahin vorherrschende kritische Theorie des Marxismus an Boden.
Im 20. Jahrhundert waren der Marxismus und die kommunistischen Parteien der Sammelpunkt der kritischen Intelligenz, die sich als Hüter der Ideale der europäischen Aufklärung verstand, welche sie um den Gesichtspunkt der sozialen Gleichheit erweitern wollten. Die Ablösung des Marxismus als kritischer Theorie durch Postmoderne und Dekonstruktion war ein Paradigmenwechsel kritischer Theoriebildung. Wie veränderte sich bei diesem Paradigmenwechsel kritischer Theorie ihr Verhältnis zur Aufklärung? In welchem Verhältnis stehen die zeitgenössischen Differenzphilosophien und insbesondere die hier untersuchte Dekonstruktion zur Aufklärung?
Als Derrida 1967 mit seinen ersten Büchern an die Öffentlichkeit trat, lagen die schreckliche Erfahrung des Holocaust und der Zweite Weltkrieg gerade zwanzig Jahre zurück. Frankreich war dabei, die traumatischen Erfahrungen der Dekolonisation und des Algerienkrieges zu verarbeiten. Das sowjetische Imperium hatte sich über halb Europa ausgebreitet, die Welt war nach 1945 durch den Kalten Krieg geprägt. Wie hingen diese Ereignisse zusammen, wie ließen sich diese Entwicklungen erklären?
Die Geschichtswissenschaft, die Politikwissenschaft, die politisch interessierte europäische Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und auch jede kritische Theorie mussten angesichts der Erfahrungen der Verwüstung Europas im Namen totalitärer Ideologien die Tatsache verarbeiten, dass die europäische Aufklärung der Entwicklung totalitärer Systeme im 20. Jahrhundert nichts entgegensetzen konnte. Es war die unabweisbare Aufgabe jeder Theoriebildung und damit auch der Philosophie, zu verstehen und zu erklären, wie es im aufgeklärten Europa zu Holocaust, Krieg, Massenmord und Vertreibung hatte kommen können.
Insbesondere die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und die zeitgenössische französische Differenzphilosophie versuchten, eine Wiederholung der Grauen totalitärer politischer Systeme zu verhindern, indem sie zu erklären versuchten, wie die Entwicklung totalitärer politischer Systeme mit dem Wesen der europäischen Kultur verknüpft ist.
Wenn vor der Aufklärung die gleichen Schrecken zu beobachten sind wie nach der Aufklärung, dann liegt der Gedanke nahe, dass es gemeinsame Strukturen vor der Aufklärung und nach der Aufklärung gibt, die durch die Aufklärung nicht verändert wurden. Die Aufklärung hätte dann ihre Ziele nicht erreicht und müsste weitergeführt werden. Hier intervenieren Postmoderne und Dekonstruktion als aktuelle Formen der Aufklärung oder als zeitgenössische Form der kritischen Theorie. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und die französischen Differenzphilosophie sind zwei verschiedene Versuche, die Ziele und Werte der Aufklärung dadurch zu retten, dass man die Aufklärung einer Fundamentalkritik aussetzt. Diese Fundamentalkritik der europäischen Aufklärung stellt dabei nicht die Werte und Ziele der Aufklärung infrage, sondern versucht, sie neu zu begründen und abzuleiten.
In ihrer Theorie der Dialektik der Aufklärung interpretierten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer die totalitären Entwicklungen des 20. Jahrhunderts als dunkle Kehrseite des europäischen Fortschrittsglaubens.9 Die Jüngere Kritische Theorie der Frankfurter Schule, mit ihrem Hauptvertreter Jürgen Habermas, verlor jedoch den skeptischen, kulturkritischen Grundton Adornos und verengte die Kritische Theorie auf den sogenannten westlichen Marxismus, eine Sonderform des Marxismus, die sich rhetorisch von den Schrecken des realen Sozialismus absetzte, dabei aber als Marxismus tief mit ihm verwoben blieb. Die jüngere Frankfurter Schule versuchte bis zum Zusammenbruch des Ostblocks, den westlichen Marxismus trotz seiner Komplizenschaft mit dem realen Sozialismus als kritische Theorie zu vermarkten.
Die französische Differenzphilosophie kritisierte diese Verwandlung der Kritischen Theorie Adornos zu einem verharmlosten westlichen Marxismus, der noch dazu als kritische Theorie verkauft wurde und knüpfte direkt an die Kulturkritik Adornos an. In Frankreich entwickelte sich ein neuer Ansatz kritischer Theorie, der es schließlich ermöglichte, auch den Marxismus jeder Ausprägung als Teil einer westlichen Kultur zu verstehen, die die Abstraktion über das Individuelle setzt und damit die ideologische Basis totalitärer Politiken bereitstellt, die im Extremfall zu Holocaust, Massenmord und Terror führen.
Im zeitlichen Abstand zu den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts kann man erkennen, dass die philosophischen Konzepte von Deleuze, Lyotard und Derrida, bei aller Unabhängigkeit voneinander, alle um ein neues Denken der Differenz kreisen. Dieses Denken der Differenz soll philosophisch Alternativen zur Metaphysik finden sowie politisch und kulturell Alternativen zu den verschiedenen Formen des Totalitarismus eröffnen.
Die Differenzphilosophie erkennt als Kern des Problems der Aufklärung, dass diese ihre eigene Bindung an die Metaphysik nicht reflektiert. Die Metaphysikkritik der französischen Differenzphilosophie weiß, dass auch die Aufklärung als emanzipatorisches Projekt der Moderne metaphysisch strukturiert ist. Die Struktur emanzipatorischen Denkens ist nicht verschieden von vormodernen oder modernen Strukturen, wie Lyotard in Das postmoderne Wissen analysiert.10 Die Strukturübereinstimmung verdankt sich der Tatsache, dass die Metaphysik dieser Strukturen an deren Sprachlichkeit festgemacht wird. So ist es möglich zu behaupten, dass die marxistische Utopie strukturell beispielsweise nicht verschieden ist von der Struktur eschatologischen Denkens des Christentums. Denn Utopien verweisen auf ein Jenseits und sind in diesem Sinne metaphysische Konzepte. Auch emanzipatorische Politik, wenn sie nach dem Schema der Utopie funktioniert, ist deshalb metaphysisch.
Während Lyotard diese Zusammenhänge mit dem politisch-philosophischen Begriff der Postmoderne analysierte, steht bei Derrida die philosophische Metaphysikkritik im Zentrum. Die politische Bedeutung der Metaphysikkritik als Kritik des Totalitarismus wird erst als Ergänzung in politisch motivierten Texten angesprochen.
In seiner Untersuchung Deconstruction and the ‚Unfinished Project of Modernity‘ rückt Christopher Norris die Dekonstruktion in die Nähe der Aufklärung. Er sieht die Dekonstruktion in einer „affinity with the project of enlightened critique set forth by Kant and taken up – albeit with significant modifications – by Jürgen Habermas“11. In diesem Buch hingegen wird Dekonstruktion nicht nur in der Nähe des Projektes der Aufklärung, sondern als zeitgenössische Realisierung des Projektes der Aufklärung gesehen und diese Ansicht begründet.
Die theoretische Grundlegung der Metaphysikkritik im Rückgriff auf die Wissenschaft der Semiotik und deren kritische Weiterentwicklung zur Wissenschaft der Grammatologie durch Derrida zeigen, dass die Metaphysik nicht ein äußerliches Merkmal bestimmter Formen unseres Denkens, unseres Wissens oder unserer Diskurse ist, sondern СКАЧАТЬ