Название: Dekonstruktion
Автор: Peter Engelmann
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Passagen forum
isbn: 9783709250143
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Und die politischen Parteien haben sich erst in diesem Moment um diese Probleme gekümmert . . . Zum Beispiel hat die Kommunistische Partei Frankreichs sich lange Zeit geweigert, sich mit diesen Problemen zu befassen. Und man kann sogar sagen, dass sie sich auch jetzt diesen Problemen nur äußerst widerwillig stellt. Auch die alte Sozialistische Partei, die in den Jahren zwischen 1960 und 1970 im Sterben, in der Agonie lag, wollte sich diesen Problemen nicht stellen. Und es war erst die erneuerte Sozialistische Partei, die ab 1972/73 diese Art von Fragen endlich aufgriff.5
Die politische Entwicklung nach dem Mai 68 kann man am besten als Dezentralisierung der bis dahin relativ einheitlichen politischen Opposition charakterisieren. In dem Moment, wo auf der politischen Ebene ein Prozess der Dezentralisierung vollzogen wurde, hatten Denkweisen, die auch in der Theorie zentralistische Diskurse auflösten und den Nomadismus, die Vielheit, die Einzelheit legitimierten, Konjunktur. Deleuze und insbesondere Foucault waren Denker der Vielheit, der ungebundenen freien Kräfte, der ungebundenen Opposition. Der Verlust der globalen politischen Konzeptionen der marxistischen Theorie und der Kommunistischen Partei führte dazu, dass sich die politischen Kämpfe dezentralisierten. An vielen Orten und in vielen Institutionen wurde aus der aktuellen Situation, aus der aktuellen Betroffenheit heraus Widerstand gegen die Macht der Institution geleistet. Die Texte von Foucault und Lyotard lieferten die theoretischen Überlegungen, die diese neuen politischen Strategien begründeten.
Diese Entwicklung führte allerdings auch zu einem für die antiautoritäre Bewegung typischen Konflikt. Der Widerspruch zwischen dem antiautoritären Selbstverständnis dieser Philosophen und der gleichzeitigen Zuweisung einer Führungsrolle durch die sozialen Bewegungen und antiautoritären politischen Kräfte war von Anfang an deutlich und konnte nie aufgelöst werden.
Die französischen Philosophen des Mai 68 verstanden sich als antiautoritär, wurden aber zugleich in den 1970er Jahren zu Leitfiguren einer antiautoritären Bewegung, sowohl im Bereich der Philosophie als auch im Bereich autonomer, politischer Bewegungen, sei es im Gefängnis, in der Psychiatrie, in den Wohngebieten, bei Bürgerinitiativen und so weiter. Sie selbst lehnten diese Rolle ab, aber sie wussten, dass sie durch ihr Verbleiben in Institutionen der Gefahr ausgesetzt waren, gegen ihren Willen zu diesen Autoritäten zu werden.
Ohne ihr Zutun wurden sie, den herrschenden Rezeptionsgewohnheiten entsprechend, zu Leitfiguren und ihre Theorien wurden als Leittheorien rezipiert. Damit waren sie in die Rolle gedrängt, die sie mit ihren Theorien kritisierten und dem Vorwurf ausgesetzt, sie seien einer perfiden Strategie der Macht aufgesessen, die darin bestünde, dass sie einerseits radikale Theorien entwickelten, diese dann andererseits in den Institutionen verträten, die ihnen der Staat zur Verfügung stellte.
Weder Foucault noch andere wurden wirklich von dieser Kritik getroffen, denn dass sie als Autoritäten fungierten, lag weniger an ihrem eigenen Auftreten, vielmehr setzte sich in dieser Betrachtungsweise die Autoritätsfixierung sowohl ihrer Anhänger als auch ihrer Kritiker durch.
Michel Foucault hat seine Sichtweise der Rolle des Intellektuellen folgendermaßen beschrieben:
Ich habe gesagt, die Rolle eines Intellektuellen heute scheint mir nicht die eines Propheten zu sein, welcher der Geschichte den Weg zu zeigen hat, den sie nehmen muss, oder der festzusetzen hat, welche Gesetze sich die Gesellschaft geben müsse. Man weiß sehr gut, wohin diese Rolle des Intellektuellen als Prophet im 19. und besonders im 20. Jahrhundert hat führen können. Die intellektuelle Prophezeiung, die Funktion des universellen Intellektuellen, der seine Gesetze diktiert, das scheint mir nicht nur eine Rolle zu sein, die aus der Mode ist, sondern auch eine gefährliche Rolle. Dagegen scheint mir, dass der Intellektuelle, in dem Maße, in dem er auf einem bestimmten Gebiet arbeitet, das notwendigerweise ein begrenztes ist – sei es das Gebiet der Medizin, das Gebiet des Rechts, das Gebiet der Geschichte usw. – dass dieser Intellektuelle eine Erfahrung des Wissens hat, die er nutzen kann, die er zirkulieren lassen kann, die er mit anderen Formen der Erfahrung und mit anderen Formen des Wissens kommunizieren lassen kann, und dass er hier eine Rolle spielen kann, die sehr wichtig ist. Sehen Sie, was sich in Polen abgespielt hat. Die Intellektuellen haben in der Gewerkschaft Solidarność eine sehr wichtige Rolle gespielt. Diese Rolle hat nicht darin bestanden, dem polnischen Proletariat zu sagen, in welche Richtung es die Dinge voranzutreiben habe. Die Rolle der Intellektuellen war genau die Rolle von Experten. Man nannte sie Experten und sie nannten sich selbst Experten. Das heißt, ausgehend von ihrem eigenen Wissen konnten sie einer sozialen Bewegung, einer politischen Bewegung, einer gewerkschaftlichen Bewegung Elemente liefern, die wichtig waren. Ich glaube, dass man hier ein Beispiel für die Rolle des spezifischen Intellektuellen hat.6
Die heftigste Kritik daran, dass die französischen Philosophen des Mai 68 sich nicht aus den Institutionen zurückgezogen haben, kam von denjenigen, die das vertraten, was Jacques Rancière in dem weiter unten ausführlicher zitierten Gespräch mit mir das „institutionalisierte revolutionäre Dogma“ genannt hat. Diese Kritiker haben sich selbst nicht gescheut, sich in den Turbulenzen der 1970er Jahre in den Institutionen zu etablieren, mussten dann aber zusehen, wie die französischen Philosophen des Mai 68 auch in den Institutionen, insbesondere bei den Studenten, immer mehr an Einfluss gewannen, während der Einfluss marxistischer Theoretiker zurückging.
Die Hartnäckigkeit mit der Foucault und andere französische Philosophen von marxistischen Kritikern aller Prägungen bekämpft wurden, erklärte sich dadurch, dass sie einen direkten Angriff auf das im ganzen 20. Jahrhundert angemaßte Kritikmonopol marxistischer Theorie und kommunistischer oder sozialistischer Parteien darstellten. Die französischen Philosophen des Mai 68 haben die geschichtlichen Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg konsequent in eine Kritik marxistischer Theorie und Praxis umgesetzt, damit den Alleinvertretungsanspruch marxistischer Theoretiker auf kritische Theorie und Praxis gebrochen und sowohl neue kritische Theorien als auch neue kritische politische Dispositive geschaffen.
Jacques Rancière sagte in dem genannten Gespräch mit mir über Vincennes (Universität Paris VIII), über die Institution also, in der die meisten hier genannten Philosophen gelehrt haben:
Vincennes wurde als eine Art Geschenk der gaullistischen Regierung an die Linken gegründet, anstelle der alten, verstaubten Sorbonne-Kultur, die zurückgewiesen wurde. Vincennes war das, was das Avantgardistischste und Neueste sowohl im theoretischen als auch im politischen Sinne in der französischen Kultur war, insbesondere in der philosophischen Kultur. Michel Foucault stand an der Spitze des Instituts für Philosophie, umgeben von Althusserianern oder eher von ehemaligen Althusserianern. Foucault war im Grunde ein wenig der Prototyp eines neuen kämpferischen Intellektuellen, der von der marxistischen Tradition abwich. Vor 1968 hatte Foucault den Ruf eines strukturalistischen Denkers, des Mannes des Antihumanismus’, des Mannes des Antiidealismus, ein wenig des Anti-Sartre...
Nach 1968 hat er seine Rolle gewechselt. Er repräsentierte jetzt einen neuen Typus des Intellektuellen, des Intellektuellen auf dem Terrain, der zur gleichen Zeit theoretisch über die Probleme dieses Terrains nachdachte. Ich glaube, er hat eine doppelte Rolle gespielt: einerseits als Philosoph, der ausgehend von der Geschichte die Genesis und das Funktionieren unserer Systeme des Denkens zu verstehen suchte. Und andererseits als kämpferischer Intellektueller, der die soziale Ordnung und Unordnung in Kategorien zu denken versuchte, die nicht mehr die traditionellen Kategorien waren wie die der Bourgeoisie, des Proletariats oder der Revolution.7
Und noch deutlicher wird Rancière in dem folgenden Statement, wenn er die Bedeutung von Foucault und den anderen hier genannten Philosophen beschreibt, die sie für die Kritik des Marxismus und den Übergang zu neuen theoretischen und praktischen Formen der Kritik hatten:
Ihre Rolle war, glaube ich, vor allem eine Rolle gegenüber dem Marxismus. Das heißt, sie waren die Befreier, oder wenn man es negativ ausdrücken will, die Liquidatoren des Marxismus’. Ihre politische СКАЧАТЬ