Название: Im Sonnenwinkel Staffel 3 – Familienroman
Автор: Patricia Vandenberg
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Im Sonnenwinkel Staffel
isbn: 9783740918064
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Sekundenlang verharrte sie so. Da vernahm sie ein schmerzvolles Stöhnen. Ihr Herz schlug bis zum Hals, die Angst in ihr wuchs riesengroß. Aber dennoch bahnte auch sie sich den Weg von einem unerklärlichen fremden Willen getrieben.
Noch einmal klang das gequälte Stöhnen an ihr Ohr, ganz nahe, und da sah sie ausgestreckt zwischen den Bäumen Michael liegen.
Sie taumelte vorwärts, kniete bei ihm nieder, sah mit tränenblinden Augen das Blut, das aus einer Wunde an der Brust sickerte.
Wahnsinnige Angst hielt sie gepackt, und ihre Gedanken überstürzten sich. Sie konnte ihn doch nicht allein lassen. Vielleicht lauerte dieser Mörder noch im Hinterhalt.
Sie hatte nicht Angst um sich, sondern nur um Michael, und da brach ein gellender Schrei aus ihrer Kehle, ein Schrei, den sie selbst nicht begriff und der doch weithin hallte.
Sie wusste nicht, dass sie diesen Schrei ausgestoßen hatte und dass sie nun immer wieder schrie: »Hilfe, Hilfe! Michael verblutet!«
*
Sabine hatte Herrn Grandel zur Tür begleitet. Endlich hatte er sich mit dem Trost, dass sein kleiner Sohn nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebte, dazu bewegen lassen, heimzufahren.
Sie hatte noch ein paar Minuten frische Luft geschöpft, als plötzlich dieser Hilfeschrei an ihr Ohr tönte. Da kam auch schon Leo Thewald aus dem Verwalterhaus gelaufen, gefolgt von seiner Frau.
»Michael …, da hat jemand Michael gerufen«, stammelte Sabine. »Wer ruft …«
Leo Thewald lief schon in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war.
Mechanisch folgte ihm Sabine. Und dann, Minuten später, nahm sie fassungslos das Bild in sich auf, das sich ihren Augen bot. Sie begriff als Erste, dass Lisa immer wieder rief: »Michael! Michael!«
Es war so unfassbar, dass sie später nicht mehr zu sagen wusste, was sie mehr erschüttert hatte: Ihr verwundeter Bruder oder das verzweifelte Mädchen, dessen Hände auf Michaels Brust lagen und von seinem Blut rot gefärbt waren.
Nicolas und André kamen, von Frau Thewald alarmiert, mit der Tragbahre. Leo Thewald hatte die Büsche niedergestampft und den Weg freigemacht.
Jäh war Lisa wieder verstummt, und erst als Michael auf die Tragbahre gebettet worden war, sagte sie: »Er darf nicht sterben! Nicolas, Michael darf nicht sterben!«
Da begriffen sie alle, dass dieser Schock Lisa die Sprache wiedergegeben hatte.
Sabine legte ihren Arm um das bebende Mädchen.
»Komm, Lisa«, bat sie erschüttert, »sei ganz ruhig! Nicolas wird ihm helfen.«
»Rede mit ihr. Sie muss jetzt reden, nur reden«, erkärte Nicolas. »Du kannst sprechen, Lisa! Du musst alles sagen!«
Lisas Hand fuhr zur Kehle.
»Ich kann reden«, sagte sie stockend, und dann ging sie wie eine Traumwandlerin neben Sabine hinter den Männern her, die Michael zur Klinik trugen.
*
Sabine zwang Lisa zum Reden, wie Nicolas es befohlen hatte. Ja, es war ein Befehl gewesen. Er hatte die Nerven nicht verloren.
Lisa befand sich jetzt in einer maßlosen Erregung, aber weder Nicolas noch André konnten sich um sie kümmern.
Für Lotte und Leo Thewald war der Schock, nun plötzlich Lisas Stimme zu vernehmen, noch größer als Michaels schwere Verwundung.
Niemals hatten sie das Kind sprechen hören, und was alles hatten sie in vielen – genau in siebzehn Jahren – getan, um das zu erleben, um dem Kind, das als hilfloses kleines Mädchen zu ihnen gekommen war, zu helfen.
Diese beiden Menschen, die das fremde Kind wie ein eigenes aufgezogen und geliebt hatten, waren ganz still geworden. Zu viel war über sie hereingebrochen, und sie wurden sich nun wohl auch bewusst, dass Lisa jetzt ihr ureigenes Leben beginnen würde, und zwar als jene, als die sie geboren worden war.
»Wenn sie nur glücklich wird«, sagte Leo Thewald leise, mit geradezu rührender Behutsamkeit die Hand seiner Frau in seinen harten Arbeitshänden haltend. »Wenn jetzt nur alles gut für sie wird. Lotte, es kann doch nicht sein, dass ihr wieder grenzenloser Schmerz zugefügt wird. Sie kann nicht nur geboren sein, um zu leiden.«
Blicklos starrte Lotte Thewald vor sich hin. Sie konnte nichts sagen. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt.
Die kleine Jill stand in der Tür.
»Ich möchte so gern zu Lisa«, flüsterte sie. »Warum darf ich nicht zu ihr, Tante Lotte?«
Sie nannte sie Tante Lotte, weil die Naumann-Kinder sie auch so nannten. Es rief Lotte Thewald zurück in. die Wirklichkeit, in der es verschreckte Kinder gab, die noch nicht wussten, was geschehen war.
»Lisa muss sich jetzt erst beruhigen«, erklärte Leo Thewald tonlos. »Sie hat sich so sehr erschrocken.«
»Was ist denn mit Michael?«, fragte Jill scheu.
»Er ist verletzt.«
»Ist er gefallen?«
»Ja, er ist gefallen.«
War es ein Zufall, oder hatte dieser Unheimliche auf ihn gezielt?, fragte sich Leo Thewald. Langsam konnte er wieder logisch denken.
»Wer hat denn um Hilfe gerufen?«, fragte Jill zaghaft.
»Lisa«, entfuhr es Lotte Thewald. »Lisa hat gerufen.«
Jill krauste die Stirn. Staunend blickte sie die Frau an, die jetzt ihre Hände gefaltet hatte.
»Der liebe Gott hat gemacht, dass sie wieder sprechen kann?«, fragte Jill leise.
Wahnsinnige Angst hat sie gehabt, dachte Lotte Thewald, Angst um den Menschen, der ihr viel, viel mehr bedeutet als jeder andere. Mit aller Liebe und Güte hatte niemand das erreicht, was diese Angst vollbracht hatte.
Lotte Thewald ahnte, was Lisa bewegte, als sie neben Michael kniete, so hilflos und verzweifelt und mit dieser Furcht, dass er sterben könnte.
Würde er leben? War dieser Hilfeschrei aus der so lange stummen Kehle noch zur rechten Zeit gekommen? Niemand von ihnen wusste es zu dieser Stunde, in der Nicolas und André um das Leben des Freundes kämpften, kurz nachdem sie erst das Leben des kleinen Peter gerettet hatten.
Sie wussten, dass dieses Leben an einem hauchdünnen Faden hing, dass es verloren gewesen wäre, wenn Lisas Schrei nicht so rasch Hilfe herbeigeholt hätte.
Sie hatten keine Zeit, darüber nachzudenken, wer das getan hatte und warum.
*
Im Sonnenwinkel hatte man diesen Schuss am Sonntagnachmittag auch für den Knall aus einem Auspuff gehalten, denn es klang anders als die vorhergehenden, dumpfer und ferner.
Es mochte auch sein, dass СКАЧАТЬ