Название: Animant Crumbs Staubchronik
Автор: Lin Rina
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783959913928
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»Ich bin nicht dreist und vorlaut«, wiederholte ich. Henry begann stumm zu essen, womit er mich nur noch mehr verhöhnte.
»Da sagt Mutter aber was anderes«, erwiderte er und ich hörte die nur schwer zu versteckende Belustigung in seiner Stimme, die mich ärgerte.
Denn er hatte schon wieder recht. Mutter beschwerte sich ständig darüber, dass ich im richtigen Moment nicht den Mund hielt und immer alles besser wusste.
»Aber ich bin höflich«, versuchte ich es irgendwie noch zu retten. Henry nickte.
»Na ja. Du meinst, du versteckst deine Unhöflichkeit besser als er«, kommentierte er amüsiert und ich starrte ihn erbost nieder. Das von meinem eigenen Bruder zu hören, traf mich härter, als ich gedacht hätte, und ich wusste nicht, ob ich es verkraften konnte, ihm in diesem Punkt ebenfalls recht zu geben.
Das Sechste oder das, in dem ich eine Gleichgesinnte fand.
Ich stand neben einem leise knisternden Kamin. In der einen Hand hielt ich ein Glas mit Sodawasser, in der anderen ein kleines Sandwich mit Pastete und starrte genervt in einen großen Salon voller Menschen, die ich nicht kannte.
Eigentlich wollte ich überhaupt nicht hier sein und die versprochene Musik blieb bisher auch aus.
Nachdem mich Henry wieder zurück zur Bibliothek gebracht und mich zum Abschied einmal so fest an sich gedrückt hatte, dass ich kaum noch Luft bekam, war ich wieder in meiner Kammer verschwunden, um dort weiterzumachen, wo ich zuvor aufgehört hatte.
Obwohl sich nicht wirklich etwas an meiner Situation änderte, fühlte es sich nach unserem Gespräch zumindest besser an, hier zu sitzen und zu arbeiten.
Ich strich mit den Fingerspitzen über den lederbezogenen Einband eines dicken Buches, das ich aus Seidenpapier ausgewickelt hatte. Die frische Druckertinte stieg mir in die Nase, ich sah den Staub in der Luft tanzen, der von den geschnittenen Seiten herrührte, und genoss die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster hereinschienen und der ganzen Situation eine nostalgische Note verliehen. Es machte mich langsam, wenn ich die Bücher genoss und nicht einfach abarbeitete, aber das war mir in diesem Moment nicht wichtig.
Ich nahm mir Henrys Worte zu Herzen und ging es langsam an. Es war mein zweiter Tag und ich wollte an diesem Abend und allen folgenden nicht wieder so abgekämpft nach Hause taumeln, wie ich es gestern getan hatte. Man hatte mich hierher gebracht in der Annahme, in einer Bibliothek zu arbeiten und nicht, die Sklavin für einen verrückten Bibliothekar zu sein. Ich wollte nicht auf seine Meinung angewiesen sein. Ich würde tun, was ich konnte, mich nicht länger aus der Ruhe bringen lassen und schließlich dadurch beweisen, dass ich eine vollwertige Erwachsene war.
Was sollte er auch machen, außer mich weiter mit arroganten Blicken und gemeinen Kommentaren zu bedenken. Rauswerfen konnte er mich nicht. Zumindest nicht innerhalb des nächsten Monats, dafür hatte Onkel Alfred gesorgt.
Trotz allem bewältigte ich in den nächsten Stunden weit mehr, als ich mir anfangs zugetraut hatte. Bevor ich ging, sortierte ich die Bücher so, dass sie einer Ordnung folgten und ich morgen weniger zu suchen hatte. Dann schraubte ich das Tintenfass zu, klopfte mir den Staub aus dem dunklen Stoff meines Rockes und verließ die Kammer aufgeräumter, als ich sie anfangs vorgefunden hatte.
Mr Reed fand ich im großen, runden Lesesaal vor. Er redete leise mit einem Mann, der noch Mantel und Hut trug und der sich nach wenigen Augenblicken auch schon wieder verabschiedete. Ich nahm die Gelegenheit wahr, mich bei dem Bibliothekar noch einmal zu zeigen, damit er wusste, dass ich pünktlich gehen würde und nicht schon vorher abgehauen war.
»Miss Crumb«, sagte er, als er mich auf sich zukommen sah. Er wirkte nicht gerade erfreut. Seine Augenbrauen waren düster zusammengezogen, die Stirn voller bösartiger Falten. Und auch wenn ich sah, dass er sich um einen neutralen Gesichtsausdruck bemühte, gelang ihm das kaum.
»Mr Reed«, erwiderte ich und fragte mich unwillkürlich, was ich wohl angestellt hatte, da schnaubte er plötzlich, nahm die Brille ab und rieb sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel.
»Verzeihen Sie meine Aufgebrachtheit. Der Gentleman gerade hat meine Nerven strapaziert«, gab er ganz offen zu und setzte sich die Brille wieder auf. »Wie kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte er sich mit einem Seufzen und zwang sich sogar zu einem schmalen Lächeln.
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, dass er auf einmal anfing, mir eine gewisse Art von Entgegenkommen zu zeigen. War das eine Finte, um mich erneut zu beleidigen, oder hatte er sich wirklich besonnen und begann tatsächlich, mehr Höflichkeit an den Tag zu legen?
Ich schätzte nicht, dass ich es gewesen war, die diese Veränderung hervorgerufen hatte, indem ich ihn seiner schlechten Manieren wegen rügte. Vielleicht lag es ja an dem Gentleman, der soeben gegangen war und der Mr Reed so viele Nerven gekostet hatte, dass ich dagegen lediglich das kleinere Übel zu sein schien.
»Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich jetzt gehe«, sagte ich leise und mit so sanfter Stimme, wie ich imstande war. Ich wusste nicht warum, aber aus irgendeinem Grund wollte ich ihn jetzt nicht noch mehr provozieren.
Mr Reed sah mich überrascht an und sein Kopf drehte sich der Uhr im Foyer zu.
Mein Blick folgte dem seinen. Es war bereits zwölf Minuten nach fünf.
»Oh, schon so spät. Gut, ähm … gut«, meinte er etwas fahrig und tastete seine Jackentaschen ab, als würde er nach etwas suchen, nur um die Hände nach einem kurzen Kopfschütteln wieder sinken zu lassen.
Dieser Mann mit Mantel und Hut musste ihn wirklich äußerst aufgewühlt haben, dass er jetzt so kopflos war.
»Noch eine Bitte«, brachte ich seine Aufmerksamkeit wieder auf mich zurück und er sah mich durch die Brillengläser an, die seine Augen ein wenig größer erscheinen ließen, als sie wirklich waren. »Morgen müssen Sie mir Ihre Suchmaschine zeigen. Denn ich bin leider ratlos, wozu Schlagwörter gut sein sollen«, legte ich ihm vor und er nickte.
»Morgen?«, wiederholte er, als ob es ihm immer noch völlig unsinnig vorkam, dass ich wirklich vorhatte, morgen wiederzukommen.
»Ja, morgen«, bestätigte ich und machte einen leichten Knicks. »Guten Abend.«
»Guten Abend, Miss Crumb«, wünschte er auch mir, die Verwirrung auf die Stirn geschrieben, und ich ging mit einem Lächeln. Denn diesmal hatte ich gewonnen.
Zu Hause angekommen, hatte ich eine ganz bestimmte Vorstellung davon gehabt, wie ich meinen Abend verbringen würde. Und zwar in meinem Sessel mit einem Buch.
Mein Kopf sehnte sich nach Zerstreuung, meine Seele nach einer guten Geschichte und mein Körper nach den ausgeleierten Sitzfedern meines Sessels, den Tante Lillian sogar im Salon duldete.
Doch meine Tante hatte bereits andere Pläne gemacht. Sie servierte mir einen späten Tee und etwas Gebäck, nur um mir dann ganz schwärmerisch von einer kleinen Soiree zu erzählen, zu der sie heute früh ganz kurzfristig eingeladen worden war, weil sie eine alte Freundin in der Stadt getroffen hatte. »Sie wusste nicht einmal, dass ich hier wohne. Ist das zu fassen? So lange hatten wir uns schon nicht mehr gesehen«, erzählte sie mit einem Lachen in der Stimme und einem glückseligen Blick. »Du wirst doch mitkommen, Ani, oder?«, meinte sie dann plötzlich und ich verschluckte СКАЧАТЬ