Название: Wir sind die Bunten. Erlebnisse auf dem Festival-Mediaval
Автор: Bernhard Hennen
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Языкознание
isbn: 9783862827657
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Er zeigt uns ebendiese Stelle. Wieder ein Haken. Auch für die Ritualkreise, die um den Bühnenbereich gezogen sind, Trankopfer vor den Getränkeständen, Trankopfer in den Lagern. Eigentlich habe ich es nicht für möglich gehalten, als ich meine Reise zu den Menschen antrat. All das scheint unendlich fern, verblassende Erinnerungen aus der Vergangenheit. Ich sehe plötzlich mein eigenes Haus vor mir, die Schnitzerei auf dem Dachsims, dünne Rauchfäden, die aus einer Räucherschale aufsteigen. Was ich hier vorfinde, ist anders, ist so viel lückiger, von Vergessen gezeichnet. Und doch bleibt ein Gefühl der Vertrautheit, das Wehmut in mir weckt. Diese Menschen haben nicht zu viel versprochen. »Gut!«, beende ich meine Liste und sehe in das verdutzte Gesicht meiner Begleitung. Warum verdutzt? Wundert er sich gerade, dass ich lächele?
Gemeinsam treten wir den Rückweg zum VIP-Zelt an, wo wir bereits von einer kleinen Gruppe aus anderen Mitgliedern des Organisationsteams erwartet werden. Gespannt umringen sie ein kleines Fass, das gleich einem Altar in ihrer Mitte auf dem Boden steht. Sie öffnen für uns den Kreis und atmen auf, als ich ihnen verkünde: »Grundsätzlich erhaltet ihr, wie angefordert, auch von uns die offizielle Genehmigung. Diese Veranstaltung wird stattfinden – mit dem Segen der Götter.«
Doch das ist noch nicht alles. »Hinsichtlich eurer gesonderten Anfrage …« Alle Blicke richten sich auf das Fass. »… Ich hätte es nicht mitgebracht, wenn es nicht möglich wäre, es euch zu überlassen. Meine Auflagen wären, dass ausschließlich die Künstler in den Genuss dieses Mets kommen. Es obliegt euch, wie ihr ihn gerecht aufteilt. Für ein Gelage wird er nicht reichen, wenn jeder etwas abbekommen soll. Aber seid versichert, seine Wirkung entfaltet er schon in kleiner Menge. Ich verbiete ausdrücklich, dass etwas davon zurückbehalten wird. Und glaubt nicht, ich würde es nicht erfahren! Worum es sich hier handelt, darüber bewahrt ihr absolutes Stillschweigen. Niemand außer den in dieser Gruppe anwesenden Personen weiß davon Bescheid, und so soll es bleiben. Wenn wir noch mehr Anfragen dieser Art bekommen, werden die Bestände knapp … Alles in allem …«
Ich hole tief Luft: »… erhaltet ihr durch mich Odins Segen, den Skaldenmet der Asen, den der Göttervater einst selbst nach Asgard brachte, um ihn an eure Künstler auszuschenken. Er soll ihre Stimme wohlklingend, ihre Lieder und Geschichten ergreifend und diese Veranstaltung unvergesslich machen!«
Meine letzten Worte verlieren sich in einem freudigen Geklatsche und Gejohle. Sämtliche Blicke der Umstehenden sind plötzlich auf uns gerichtet. »Bitte, Diskretion!«, zische ich und bringe die Freudenrufe damit jäh zum Verstummen. Ich löse mich aus der Runde und hole aus meiner Gürteltasche eine kleine, bronzene Medaille. Es ist das Abbild eines Wal-Knotens, eines dreifach in sich geflochtenen Knotens, unscheinbar, äußerlich kaum von der Ware der Händler zu unterscheiden. Mit einem Nagel und einem Hammer treibe ich ihn in einen der Balken am Eingang des VIP-Zeltes und murmele darüber einen Segensspruch. Nun ist es offiziell. Beziehungsweise – offizieller wird es nicht. Die Headorga hat mich am Anfang doch tatsächlich gefragt, ob ich ihnen – wenn ich schon eine Genehmigung ausspreche – etwas Schriftliches ausstellen könne. Kaum vorzustellen! Ein Zertifikat über Göttersegen! Nein, bei allen neumodischen Sitten, solche Verfahrensweisen würden hoffentlich niemals Brauch werden.
»Eines noch,« wende ich mich an den Kopf des Organisationsteams. Mir ist mittlerweile ein Gedanke gekommen. »Ich habe bei meiner Prüfung einen vermutlich gefährlichen Gegenstand festgestellt. Ich werde überprüfen, ob er wirklich echt ist. In diesem Fall werde ich ihn konfiszieren.«
Die Headorga wirkt nur verhalten begeistert. »Tatsächlich? Um welche Art Gegenstand handelt sich denn?«
»Einen Schwanenmantel.«
Er zieht die Augenbrauen in die Höhe. »Und das heißt?«
Ich atme genervt aus. »Die Haut einer offensichtlich toten Walküre.«
Der junge Mann, der mich während des gesamten Kontrollganges begleitet hat, folgt mir wieder zu dem Gewandungsstand zurück. Auf wundersame Weise ist der schön drapierte Schwanenmantel auf einmal neben dem Eingang verschwunden und im Inneren des Zeltes aufgebaut. Dort erhascht ein Vorbeilaufender auf ihn erst im zweiten Anlauf einen Blick. Der Verkäufer ahnt Böses, als er uns wiederkommen sieht. »Gibt es immer noch Probleme wegen des Mantels?«, fragt er mich zur Begrüßung und ich spare mir ebenfalls Floskeln: »Ich werde prüfen, ob er ist, was ich glaube. In diesem Fall konfisziere ich den Mantel.«
»Mit welchem Recht?«, faucht der Verkäufer, entlockt mir jedoch nur ein mildes Lächeln. »Das werdet Ihr dann sehen! Wenn er ist, was ich glaube, gehörte er einer Tochter Odins und nicht in Menschenhand!«
Hilfesuchend blickt der Verkäufer zu meiner Begleitung aus dem Orga-Team, dieser mahnt ihn jedoch, es mich wenigstens probieren zu lassen. Womöglich sei der Mantel überhaupt nicht echt. Widerwillig nimmt der Verkäufer das Federgewand daher vom Kleiderständer und legt es mir um die Schultern.
Ein Schauer überkommt mich. Kaltes Leder liegt auf meiner Haut, berührt meinen Nacken, scheint durch meine Kleidung zu dringen. Alle Zweifel sind wie ausgelöscht. Es geschieht, was mir seit so vielen Jahrhunderten vertraut ist wie kaum etwas anderes. Ich schließe die Augen, spüre die fremde Haut meiner Schwester, ihre wird zu meiner. Was gerade noch Kleidung war, wird nun Teil meines Körpers. Ich achte nicht auf die erstaunten Blicke der Umstehenden, fühle nur noch, wie meine Gestalt sich verwandelt, die menschliche Erscheinung dem Körper eines Schwanes weicht.
Ich habe mich also nicht getäuscht. Eine Windböe gibt mir den Auftrieb, um von der Wiese abzuheben. Bald darauf sehe ich das Festivalgelände auf dem Goldberg unter mir liegen. Hier ist meine Arbeit getan. Nun muss ich herausfinden, was es mit dem Mantel auf sich hat. So schnell ich kann, kehre ich zurück nach Walhalla.
© privat
Billie Przegendza
Die Autorin ist Jahrgang 1973, seit über zwanzig Jahren glücklich verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Sie lebt in Eisenberg/Thüringen und hat eine Ausbildung zur Erzieherin absolviert. Sie arbeitete in ihrem Leben aber auch schon als Piratin, mittelalterliche CD-Dealerin und Wichtel in einem Supermarkt. Aktuell ist sie in einem Nachhilfeinstitut als Büroleitung, Lehrkraft und »gute Seele« tätig. Billie Przegendza ist überzeugter Grufti, ab und zu LARPerin, Redakteurin für das UnArt Webzine und schreibt sonst vorrangig steampunkige Kurzgeschichten, die in der Ætherwelt von Anja Bagus spielen. Wenn sie nicht gerade schreibt (oder häkelt), engagiert sie sich ehrenamtlich in der Kommunalpolitik ihrer Heimatstadt, wo sie im Kulturausschuss mitarbeitet.
Auf dem Festival-Mediaval hat Billie quasi eine Inventarnummer, denn sie ist seit der ersten Auflage im Jahr 2008 jedes Jahr dabei – zuerst als Händlerin und seit 2011 als Pressevertreterin.
www.unart.tv
Tanz auf dem Balkon
September 2015 – die Sonne schien durch das Fenster und kitzelte Enis’ Nase. Der junge Mann СКАЧАТЬ