Название: Ende offen
Автор: Peter Strauß
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783347020290
isbn:
Mein Aufwachsen in den Siebziger und Achtziger Jahren hat mir sehr deutlich gezeigt, wie Aggressivität von einer Generation zur nächsten übergeben wird: Sind Eltern durch Kriegserlebnisse oder aufgrund einer von Gewalterfahrungen geprägten Kindheit traumatisiert, so fehlt ihnen häufig Mitgefühl, und sie sind nicht in der Lage, ihren Kindern die nötige Geborgenheit zu geben. Viele Eltern konnten es nicht aushalten, dass es ihre Kinder im Leben leichter hatten und sorgloser, neugieriger, ohne Vorbelastung ins Leben gingen. Um sie auf den „Ernst des Lebens“ vorzubereiten, wurden viele präventiv von den Eltern unterworfen und gedemütigt, damit sie es „später leichter hätten“.222 Beispielsweise konnten es meine Eltern nicht ertragen, wenn ich als Kind ausgelassen oder übermütig spielte. Sie empfanden impulsive und laut geäußerte Lebensfreude als Störung der Ruhe und Ordnung und ermahnten und zwangen mich immer wieder dazu, leise zu sein oder stillzusitzen.
Juul weiter: „Die andere [Erklärung für das Streben vieler Eltern, die Kinder zu regulieren] ergibt sich daraus, wie wir Menschen, wenn wir in unseren Beziehungen zu anderen erleben, dass wir nicht so wertvoll sind, wie wir gern wären, unmittelbar reagieren: nämlich aggressiv. Wir sind gereizt, frustriert, wütend und gewalttätig.“223 Ganz allgemein greifen Eltern, deren Integrität durch Gewalt in ihrer eigenen Kindheit oder durch Kriegserfahrungen beschädigt wurde, auch ihren Kindern gegenüber schneller zu Gewalt und halten das eher für richtig als unbeeinträchtigte Eltern. Aggressivität ist durch „Erziehung“ vererbbar. Wie A. S. Neill feststellt, hat noch nie ein glücklicher Mensch Krieg gepredigt, an seinen Kindern herumgenörgelt, seine Angestellten terrorisiert oder einen Mord oder Diebstahl begangen. Wer Gewalt erlebt hat, neigt selbst zu Gewalt und toleriert sie eher.224
Die Verletzung der Integrität ist es, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, und dies bedingt sich wechselweise mit einem höheren Niveau von Aggressivität in der Gesellschaft. Dies mag einen Sinn haben, denn aus Sicht der Evolution ist es nützlich, in Notzeiten die Aggressivität hoch zu halten, um die Revierausnutzung zu verbessern und die Bereitschaft zu Veränderungen anzuheben. Es scheint dem Überleben einer Art zu dienen, ein einmal benötigtes, besonders hohes Aggressionsniveau über Jahrzehnte bzw. mehrere Generationen aufrechtzuerhalten. Dieser Gedanke mag spekulativ sein, aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass dieser Mechanismus nicht zufällig entstanden ist, sondern aus evolutionärer Sicht einen Zweck erfüllt. Selbst die Möglichkeit, dass er zufällig entstanden ist und lediglich nicht störend wirkt, ist unwahrscheinlich. Brächte dieses Wirkprinzip tatsächlich einen Nachteil für die Arterhaltung, würde es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder zurückbilden.225 Daher nehme ich an, dass der langsame, über Generationen laufende Rückgang der Aggressivität einen Zweck erfüllt.
Ähnliche Mechanismen finden an vielen Stellen Anwendung: Stolpere ich auf einem Weg, gehe ich unwillkürlich mit erhöhter Aufmerksamkeit weiter, denn vielleicht bin ich von einem befestigten auf einen unbefestigten Weg gelangt. Trete ich in eine Pfütze, lohnt es sich weiter, auf Pfützen zu achten, denn vielleicht erwarten mich noch mehr davon. Nach diesen Prinzipien funktionieren auch adaptive Fahrwerke und andere Software in den Steuergeräten heutiger Fahrzeuge. Wir können zwar die Zukunft nicht vorhersagen. Tritt jedoch ein auffälliges Ereignis ein, hat es sich bewährt, zunächst davon auszugehen, dass es sich wiederholen kann. Ein solcher Generalisierungsmechanismus steuert offenbar auch die Aggressivität der Menschen, indem er dafür sorgt, dass ein einmal hohes Niveau nach dem Verschwinden der Bedrohung nicht sofort wieder abklingt.
Beispielsweise wird dieser Mechanismus in einem steinzeitlichen Umfeld dazu führen, dass Menschen bei Verschlechterungen ihrer Lebensbedingungen (z. B. durch klimatische Veränderungen) für einen langen Zeitraum aggressiver und aktiver werden und sich neue Lebensräume suchen. Dabei werden sie wahrscheinlich auch Nachbarn in gemäßigteren Regionen zurückdrängen, sodass es am Ende wieder im Sinne von Konrad Lorenz zu einer weitgehend gleichmäßigen Ausnutzung des zur Verfügung stehenden Lebensraums kommt. Auf jeden Fall wird der Wettbewerb untereinander härter, und nur die Stärksten kommen durch. Vielleicht stellt die parallel zu den unwirtlicheren Umweltbedingungen ansteigende menschliche Aggressivität den Regelungsmechanismus dar, den auch die Füchse (das Beispiel von S. 28) nutzen, um ihre Population in schlechten Zeiten zu reduzieren, statt ihr Revier leerzufressen.
Möglicherweise gehört auch dazu, dass im Urzustand der Menschheit die Aggressivität nur langsam abklingen konnte, weil andernfalls die ältere, aggressivere Generation die jüngere, allzu friedliche verdrängt hätte. Die Aggressivität kann in der nächsten Generation offenbar nur so weit absinken, dass sie ausreicht, der älteren Generation Widerstand zu leisten.
Eltern mit den oben beschriebenen „Erziehungs“-Methoden waren in den Nachkriegsjahrzehnten der Normalfall. Die erste Generation, die sich dagegen wehrte, waren die Achtundsechziger, die den „Mief der Fünfziger Jahre“ beseitigen und ein anderes Leben führen wollten. Seitdem ist Gewalt in unserem Zusammenleben und speziell in unserer Kinder-„Erziehung“ kontinuierlich zurückgegangen. Da es in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg wenige neue Kriegstraumatisierungen gibt, „Erziehung“ immer weniger gewalttätig ist und Kinder mit jeder Generation tendenziell mehr Liebe und Geborgenheit und weniger Beeinträchtigungen erfahren, geht die Aggressivität bei uns zurück. Im Westen hat sicherlich auch das Wirtschaftswunder mit den beständig steigenden Konsummöglichkeiten zur Entspannung der Situation beigetragen.
Dennoch wird es noch Jahrzehnte dauern, bis wir einen allgemein offenen, friedlichen und toleranten Umgang miteinander haben und wir gelernt haben, auf Aggressivität und Abgrenzung zu verzichten. In vielen Bereichen der Berufswelt ist derzeit eine offene Begegnung von Menschen noch nicht möglich, und es überwiegen Hierarchie, Ängste und Grobheiten. Wie lange wird es dauern, bis die Folgen des Kriegsleids verdaut und verarbeitet sind?
Aggressivität ist ein Mittel zum Überleben, aber auch zur Entwicklung
Betrachtet man die Auswirkungen von Aggressivität und Friedfertigkeit bei zwei benachbarten steinzeitlichen menschlichen Clans, so stellt man fest, dass Aggressivität automatisch zu Expansion, Entdeckungen, Erfindungen und Weiterentwicklung führt. Der aggressivere Clan wird den friedfertigeren zurückdrängen und sich so Lebensraum aneignen. Einerseits fördert die Rastlosigkeit, die untrennbar zur Aggressivität gehört, neue Handlungsweisen, andererseits birgt sie aber auch die Gefahr des Scheiterns. Für die Arterhaltung ist sie daher nur in Krisensituationen angebracht.
Friedfertigkeit ist von der Evolution gewünscht, solange die Lebensbedingungen für die Mehrheit ausreichend gut sind. Wird der Lebensraum knapp, so setzen sich im Sinne der Arterhaltung die Aggressiveren durch. Darüber hinaus scheint Aggressivität ganz allgemein der Motor zu sein, der angeworfen wird, wenn Veränderung benötigt wird – nicht nur, um den verfügbaren Platz optimal auszunutzen, sondern auch, um weitere Veränderungen anzustoßen. Aggressivität ist stärker mit Innovation verbunden als Friedfertigkeit. Wohlstand und Friedfertigkeit führen zu Zufriedenheit und machen träge. Unzufriedenheit und Leidensdruck machen aggressiv und drängen zur Tat. Man kann zwar auch aus Neugier kreativ und innovativ werden, aber Unzufriedenheit ist der stärkere, weil kontinuierlichere Antrieb. Wut hat den Sinn, Kräfte zu mobilisieren. Wenn ich wütend bin, bin ich entschlossener, geradliniger, verfolge mein Ziel ernsthafter und lasse mich weniger leicht vom Weg abbringen.
In bestimmten Situationen stellt die Evolution offenbar den Nutzen der Aggressivität СКАЧАТЬ