Название: Tot am Ring
Автор: Wolfgang Wiesmann
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Зарубежные детективы
Серия: Kommissarin Fey Amber
isbn: 9783942672788
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„Wir übersehen etwas.“
„Das meine ich auch. Beer benutzte einen Rollator. Warum nicht in der Halle? Kühne sprach von chronischen Knieschmerzen. Wollte sie lieber in Würde ihren Tod vorbereiten?“
„Eitelkeit in letzter Minute? Das glaube ich nicht“, urteilte Mörris.
„Vielleicht hatte sie sich mit Schmerzmitteln vollgepumpt. Wir blasen ab. Von den Fingerabdrücken erhoffe ich mir keine Neuigkeiten. Wenn Degenhardt nichts weiter findet, wird sie Selbstmord auf den Totenschein schreiben. Kommst du?“
10 Der leere Stuhl
Kühne saß vor seinem Espresso und mochte ihn nicht anrühren. Das Lehrerzimmer würde sich zur großen Mittagspause gefüllt haben und ihm stand der schwere Gang zu seinen Kollegen bevor. Sollte er von Schuld sprechen? Es würde nachdenklich machen. Aber wäre das gut? Auch er würde Federn lassen müssen. Nachher war man immer schlauer, aber wer hätte das vorhersehen können? Beer war immer eine starke Persönlichkeit gewesen. Den Vorfall ein tragisches Schicksal zu nennen, würde den Nerv des Kollegiums am besten treffen. Es war ohnehin vorbei. Inge Beer war tot. Sie hatte ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen. Aber wie wandte er die Aufmerksamkeit weg von der Schule? Er durfte nicht den geringsten Zweifel an der Integrität des Kollegiums aufkommen lassen. ‚Inge Beer, eine kompetente Pädagogin, mit dem Herz am rechten Fleck, wurde aus der Mitte des Kollegiums gerissen.‘ So oder so ähnlich müsste er es darstellen. Er kannte niemanden, der Inge wirklich eine Träne nachweinen würde, aber das war eine Wahrheit, die nicht zu einer Trauerfeier passte. Schüler wie Eltern würden hören wollen, dass die Kollegin Beer eine echte Bereicherung für die Schule und die Kollegen war und ihre fachspezifischen Akzente die tadellose Außenwirkung der Schule nachhaltig mitgestaltet hatten.
Kühne erhob sich. Offensichtlich wusste er plötzlich, wie er die Situation zum Guten wenden würde. Erstens musste er Kontakt mit der Kommissarin Amber aufnehmen. Zweitens gab der Todesfall ihm die fantastische Gelegenheit, die Albert-Schweitzer-Gesamtschule in ein vorbildliches Licht zu rücken. Es war alles eine Frage der Rhetorik. Den Abiturienten würde er Möglichkeiten einräumen, damit sie ihre Gefühle und ihre Betroffenheit kanalisieren konnten und kein Lernstau aufkam.
Er trank seinen Espresso und rief Fey Amber an. Sie war nach Münster zurückgekehrt und befand sich gerade auf dem Weg in die Pathologie. Degenhardt würde nicht lange brauchen, um zu einem endgültigen Ergebnis zu kommen und das hätte sie gerne gewusst. Sie vertröstete Kühne für eine oder zwei Stunden.
Im Lehrerzimmer herrschte aufgeregte Geschwätzigkeit. Jemand hatte den Abtransport der Bahre mit dem Aluminiumdeckel gesehen und nun suchte man nach Erklärungen. Zwei Personen waren allerdings in ein Zwiegespräch vertieft, das nichts mit dem allgemeinen Rätselraten zu tun hatte. Paul Winter war ebenfalls wie Jens Brisinzki aus der Wirtschaft abgeworben worden, um an der Schule Physik und Mathe in den Jahrgängen bis zur 10. Klasse zu unterrichten. Ralf Lesche war sein Mentor und bekannt für seine gute Didaktik. Paul Winter war erst 27 Jahre alt und Ingenieur von Beruf. Fachlich traute man ihm die Aufgabe zu, doch seine ersten Versuche, allein vor der Klasse zu unterrichten, waren kläglich gescheitert. Die Schüler hatten sehr schnell ihre Neugier befriedigt und schon in der ersten Stunde hatte der 10e-Mathe-EK zum Ende hin jegliche Anweisung ignoriert. Winter konnte sich nicht durchsetzen und Lesche hatte keine Lust, wegen der Misswirtschaft des Bildungsministeriums die heißen Kastanien aus dem Feuer zu holen. Der Lehrermangel ging auf dösige, dafür hochbezahlte Ministerialdirigenten der Landesregierung zurück. Die hatten gepennt, ausbaden mussten es die Schüler.
Lesche machte gerade seinem anvertrauten Laienkollegen klar, dass er ihn nicht länger an die Hand nehmen konnte. Winter stand mit dem Rücken zur Wand, denn nach seinem Studium hatte er zwei Jahre versucht bei Thyssen-Krupp Fuß zu fassen, war aber wegen schwacher Teamfähigkeit und mangels Input ins Abseits geraten.
Lesche war 55 Jahre alt und seit 25 Jahren an der Albert-Schweitzer-Gesamtschule, kurz ASGS genannt, tätig. Er hatte Inge Beers Einstand mitgefeiert und war seitdem immer loyal zu ihr gewesen. Zwar hatte er ihren Niedergang bemerkt, aber Inge für so stark gehalten, dass sie mit den Höhen und Tiefen des Lebens fertig würde. Paul Winter hielt er für eine ausgemachte Niete. Verglichen mit Inge war Winter ein didaktischer Bruchpilot. Er hatte bisher jede Stunde in den Sand gesetzt, sodass dem EK 10e der Anschluss zu verlieren drohte. Er musste unbedingt mit Kühne reden. So ging das nicht weiter.
Wenn man vom Teufel sprach, dachte Lesche, als Kühne das Lehrerzimmer betrat und händeklatschend um Aufmerksamkeit bat.
„Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte setzen Sie sich einen Moment. Wir haben einen schweren Verlust zu beklagen. Wie Sie bemerkt haben, ist der Platz von Frau Beer heute Mittag nicht besetzt. Ich bedauere sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass unsere verehrte Kollegin unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist. Die Kriminalpolizei war im Hause, um den Fall zu untersuchen. Augenscheinlich handelt es sich um einen Selbstmord, aber man denkt bei der Kripo auch über einen Mord nach. In Kürze wird man mich über die neusten Ergebnisse der Ermittlungen informieren. Ich werde Sie umgehend davon in Kenntnis setzen. In dieser schweren Stunde möchte ich Sie bitten, den Schülern gegenüber zunächst Stillschweigen zu bewahren. Warten wir erst die polizeiliche Untersuchung ab. In der Zwischenzeit denken Sie bitte darüber nach, wie Sie in Ihren Klassen die Schüler mit der tragischen Nachricht vertraut machen wollen.“
11 Bedauern
Mord fanden die meisten Kollegen unvorstellbar. Wer sollte Inge Beer umbringen und warum? Sie war eher eine tragische Figur, die sich aus Verzweiflung oder Depression das Leben genommen hatte. Man war sich an den Lehrertischen schnell einig, dass es erkennbare Gründe gab, warum Inge mit dem Leben Schluss gemacht hatte. Chronische Schmerzen in den Knien, ständig Schmerzmittel nehmen und erst die Nebenwirkungen. Der Rollator war in den Augen vieler eine unerträgliche Demütigung gewesen, die sich die meisten nicht angetan hätten, lieber wären sie früher dienstunfähig in den Ruhestand getreten. Inge hatte es nicht leicht, darüber waren sich alle einig. Wahrscheinlich hatte sie auch Herzprobleme bei dem Übergewicht und dem Stress, und dass sie Wasser in den Beinen hatte, konnte man sehen. Jemand öffnete die Tür zu Inges Spint und warf einen Blick hinein. Ein Kollege rief, nichts anzurühren, bis die Polizei ihre Ermittlungen abgeschlossen hatte. Plötzlich stand doch das Thema Mord im Raum. Außer Brisinzki wiegelten alle diese Möglichkeit mit skeptischen Gesichtern ab.
Jeder der Kollegen hatte Brisinzki näher kennengelernt, denn er verantwortete die Installation der neuen EDV-Anlage. Die Albert-Schweitzer-Gesamtschule war Teil eines Pilotprojektes des Bildungsministeriums. Auf lange Sicht sollte jeder Lehrer in NRW Zugang zu einem internen Programm haben, auf dem alle schulrelevanten Daten erfasst und verschickt werden konnten. Brisinzki war an der Entwicklung der Anlage beteiligt, die seit Tagen an der ASGS in Haltern erprobt wurde. Dazu wurde jeder Kollege von ihm persönlich in die Materie eingeführt. Er hatte aus diesem Grund gestern Nachmittag kurz mit Inge gesprochen. Brisinzki kannte keine Berührungsängste, duzte alle gern und war unter den Kollegen geschätzt, weil er ein starkes Charisma hatte, das auch bei den Schülern Respekt einforderte. Er bat um Gehör.
„Ihr solltet wissen, dass ich gestern mit Inge gesprochen habe. Sie wirkte die letzten Tage depressiv auf mich, war aber gestern guter Dinge. Erzählte mir von den Tagen, als es kaum Computer und Handys in der Schule gab. Ein Kopiergerät für alle Lehrer wäre damals als besondere Errungenschaft vorgestellt worden. Sie lächelte, als sie ihren Frust über die neuen Medien zum Ausdruck brachte. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass sie es zwar ernst meinte, aber in ihrem Ton eine unbekümmerte Gleichgültigkeit mitschwang. Wenn Inge mit ihrem Wägelchen über den Flur dackelte, habe ich sie bewundert. Eine Walküre auf dem Weg in die Schlacht. Jetzt denke ich anders über unser Gespräch von gestern. Sie war СКАЧАТЬ