Bis ihr sie findet. Gytha Lodge
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      »Jessie!«

      Es war, als hätte Jonah gar nichts gesagt.

      Das Mädchen warf ihrem Vater einen aufsässigen Blick zu und schaute dann, so gut sie es zwischen den Fransen ihres geraden braunen Ponys hindurch konnte, zu Jonah auf. Der bemühte sich, ruhig zu bleiben, trotz der Unterbrechungen des Vaters, dem es keineswegs darum ging, der Polizei behilflich zu sein, sondern nur um Kontrolle.

      »Sind Sie ein Inspektor?«, fragte Jessie leise.

      Jonah lächelte. »Ja, sogar ein Detective Chief Inspector.«

      Jessies Blick blieb ein wenig misstrauisch. »Heißt das, Sie sind für alles zuständig?«

      »Ja.« Damit schien sie einigermaßen zufrieden, also sprach er weiter. »Kannst du mir sagen, was du gemacht hast, als du die Knochen gefunden hast?«

      Jessie blickte zu ihrem Vater und sagte leise: »Ich hab mich versteckt.«

      Jonah sah, wie ihre Mutter das Gesicht verzog, aber sie machte keinen Versuch, es zu leugnen.

      »Verstecken macht Spaß«, sagte er. »Diese Höhle unter dem Baum. War die schon da? Oder hast du die gegraben?«

      Jessie schüttelte den Kopf. »Ich bin einfach reingegangen und hab mich hingesetzt. Dann hat mich was gepiekt, und ich hab es aus dem Boden gezogen.«

      Jonah nickte. »Klar. Und es ließ sich ganz leicht rausziehen?«

      »Ja. Ich dachte – ich dachte, es wäre eine Wurzel oder vielleicht eine Pflanze. Aber dann hab ich gesehen, dass es ein Finger ist.«

      »Das hast du gut gemacht«, sagte Jonah nickend. »Das hätte nicht jeder erkannt.«

      Jessie nickte, lächelte schüchtern und stand auf. Ihre Mutter zog sie an sich und umarmte sie kurz.

      »Ich möchte, dass sie für ein paar Tage nicht mit ihren Schulfreundinnen darüber spricht«, sagte Jonah zu Mrs Miller, nachdem sie ihre Tochter losgelassen hatte.

      »Das ist kein Problem, in den nächsten paar Wochen trifft sie niemanden. Wir wollen unseren Urlaub fortsetzen, aber woanders.«

      Privat unterrichtete Kinder, begriff er. Sie waren schon einen Monat vor dem Ferienbeginn der staatlichen Schulen im Urlaub.

      »Gut. Es wäre besser, wenn zunächst noch nicht darüber geredet wird.«

      »Selbstverständlich.«

      Er hörte Dr. Miller näher kommen.

      »Sind wir hier fertig? Es ist ein schöner Tag, und ich glaube nicht, dass wir noch viel hinzuzufügen haben.«

      »Ja, wir sind fertig. Vielen Dank für Ihre Geduld.«

      Als Jonah aufstand, erteilte der Arzt seinen Kindern bereits Befehle zu packen und scheuchte sie zum Zelt.

      Jonah ertappte sich dabei, Mrs Miller zu beobachten, die ebenfalls aufstand und ein paar halb leere Tüten mit Rosinen und eine Tasse einsammelte.

      »Tut mir leid, dass Ihr Urlaub unterbrochen wurde«, sagte er.

      »Das macht nichts«, sagte sie und winkte ab, bevor sie sich zu ihrem Mann umblickte. »Martin ist bloß … Für ihn ist es nicht so toll.« Sie senkte die Stimme. »Der Urlaub sollte ihn ablenken … Es geht ihm sehr schlecht. Sie sagen, die Chance, dass er bis Weihnachten überlebt, beträgt nur fünfzig Prozent.«

      Jonah nickte und fragte sich, ob sie es gewohnt war, sich für ihren Mann zu entschuldigen. Er begriff, dass der Mann Krebs hatte und diese Knochen für ihn eine Begegnung mit der Sterblichkeit gewesen waren. Er empfand einen Hauch von Mitleid.

      Die Ausgrabung dauerte schon anderthalb Stunden. Dutzende von Fotos wurden gemacht, ein Zelt wurde über dem Fundort errichtet, acht Tüten wurden mit sorgfältig etikettierten Knochenfragmenten gefüllt.

      Allen war heiß, alle waren gereizt. Jonah hatte einen bitteren Geschmack im Mund, stundenalter Kaffee. Er konnte die Füße nicht still halten und verspürte einen kräftezehrenden Hunger, der es ihm schwer machte, sich zu konzentrieren.

      »Schon irgendwelche Erkenntnisse?«, fragte Hanson, nachdem sie mehrmals zum Parkplatz und wieder zurück gelaufen war.

      Die Aufregung war in Langeweile umgeschlagen, die einzige verlässliche Konstante im emotionalen Spektrum eines Detective.

      »Ich denke, es wird noch eine Weile dauern«, sagte Jonah. »Es ist eine alte Leiche … das ist zeitaufwendig.«

      »Können wir sonst irgendwas …?«

      »Wir können hier sein, wenn sie uns sprechen wollen«, sagte er und deutete ein Lächeln an.

      Gut zwanzig Minuten später stieg Linda McCullough behutsam aus der Bodensenke und kam auf ihn zu. Er war froh, dass McCullough die Spurensicherung leitete. An einem Tatort, der bestenfalls noch zarte Reste von Indizien aufwies, musste man geradezu zwanghaft vorsichtig sein.

      »Wie läuft es, Linda?«

      »Wir werden noch einige Zeit damit beschäftigt sein, alles einzusammeln.« Sie nahm ihre Maske vom Gesicht und schob sie über ihre weiße Kapuze. Ihr wettergegerbtes Gesicht war schweißnass, was wohl bei jedem, der bei dem Wetter einen Overall hätte tragen müssen, so gewesen wäre. Aber McCullough schien es gar nicht zu bemerken. »Um Ihnen wenigstens eine erste Rückmeldung zu geben: Es handelt sich um ein pubertierendes Mädchen im fortgeschrittenen Zustand der Verwesung.«

      »Wie fortgeschritten?«

      »Es ist nur eine grobe Schätzung, aber mehr als zehn Jahre. Und weniger als fünfzig.«

      Dreißig Jahre, dachte er. Dreißig.

      Einen Moment lang fand er es schwer zu glauben, dass so viel Zeit vergangen war. Ihn durchzuckte das Gefühl, den größten Teil seines Lebens verschlafen zu haben wie Rip van Winkle. Der hatte wahrscheinlich auch diese seltsame Mischung aus Wut und Schuld empfunden.

      »Linda!«

      McCullough drehte sich um und schirmte die Augen gegen die Sonne ab. Ein zweiter weißer Bioanzug beugte sich aus dem Zelt.

      »Ich habe weitere Proben geborgen. Kannst du dir das mal ansehen?«

      »Sicher.«

      Sie setzte ihre Maske auf, kletterte vorsichtig zum Fundort hinunter und verschwand wieder in dem Zelt.

      »Also wenn es ein Mord war, ist er lange her«, sagte Hanson, und Jonah wurde kurz von dem weißen Papier ihres Notizblocks geblendet, als sie eine Seite umschlug. Sie klang enttäuscht, nichts ahnend von den gewaltigen Implikationen, die sich hinter diesen Zahlen verbargen. »Und es ist ein Mädchen im Teenageralter.«

      »Es ist dreißig Jahre her«, sagte er. »Und es ist Aurora Jackson.«

      2. Aurora

      Freitag, 22. Juli 1983, 17:30 Uhr

      Hell, СКАЧАТЬ