Название: Ohne die Tat ist alles nur Geplapper
Автор: Galsan Tschinag
Издательство: Bookwire
Жанр: Общая психология
isbn: 9783958833081
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Über die Geschichte jedes Landes, so auch der Mongolei, lässt sich alles Mögliche sagen. Was genau das ist, hängt davon ab, wer da spricht und zu welchem Ziel er es tut. Also, über unser altes, geschichtsträchtiges Land ist in den letzten Jahren so viel Beifälliges wie auch Aussetzendes gesagt und geschrieben worden. Wobei das Erstere die dschingisisch blauen sieben Jahrhunderte und das Letztere die revolutionär roten sieben Jahrzehnte betrifft. Und jede dieser Behauptungen war auf eine Art einseitig. So kann das, was ich nun von mir geben werde, auch nicht ganz frei von jener Befangenheit sein, aber ich werde gleich auch den Grund nennen, wieso ich solches tun will:
In der letzten Zeit ist die rohe Gewalt, die Seele unserer früheren Geschichte, so sehr verherrlicht worden, und nun möchte ich dagegen den Geist stellen. Vom Winkel des Geistes also war die bevölkerungsarme, materiell schwache Mongolei im Begriff, zu einer Wohnstätte des Wissens zu werden. Jeder hatte zu lernen, zu lernen und nochmals zu lernen, wie der Revolutionsführer Lenin es uns ans Herz gelegt hatte. Und dafür musste man viel lesen. So war man leselustig, lesehungrig, lesewütig. Das war unsere Wirklichkeit vor 20 Jahren. Und davon ist immer noch etwas geblieben.
Ja, so manche älteren Menschen, darunter auch einfache Nomaden, haben in sich mehr Wissen gespeichert als Hochschulprofessoren, Philosophen an manchen anderen Ecken des Planeten. Wieso treten denn die Nomaden, diese einfachen Jäger, Schäfer, Wächter, mit solchem Wissen auf?
Hinzu kommt, dass unsere Menschen auch noch von alters her erzählen und zuhören können. Dieser vom kommunistischen Weltexperiment be-einflusste nomadisch-mongolische Hintergrund erschafft ein für viele europäisch-amerikanische Geister unglaubwürdiges Spielfeld. Nämlich, ich werde von so manchen meiner Lektoren schnell kritisiert, unrealistisch mit dem Leben zu verfahren: Wieso treten denn die Nomaden, diese einfachen Jäger, Schäfer, Wächter, mit solchem Wissen auf? Wo sie doch in ihrer Abgeschiedenheit zu so feinen Urteilen über fern liegende Dinge unmöglich gelangen könnten!
Die Wahrheit aber ist: Das Nomadenvolk ist von seiner Natur her aufgeschlossen, wissbegierig und handlungslustig. Und hinzugekommen ist dann der Lese- und Lernzwang, der ihnen der allmächtige, rechthaberische Staat auferlegt hat. Also war ein nahrhafter Boden für den Dilettantismus erschaffen. Und es gehörte einfach zum guten Ton, dass ein jeder sich auf Schritt und Tritt Wissen, so aber auch manche praktischen Fertigkeiten beizubringen trachtete. Das Ergebnis: ein Volk von lauter Dilettanten, die an Fachleute bis zu einer gewissen Nachbarschaft zu rücken vermochten, ohne es freilich zu schaffen, sie gänzlich zu ersetzen. In jener Ära der Geschichte hatte alles Russische einen himmelhohen Wert. Das Sinnwidrige dabei war, dass das Wort „russisch“ selbst außerhalb der Sprache mit der Zeit politisch nicht weniger salonfähig wurde. Denn besser passte da „sowjetisch“. Der Sowjetmensch war de facto der Übermensch. Die hervorragende Besonderheit dieses zeitgebundenen Übermenschen sollte die vielseitige Belesenheit sein, was auf Russisch krugasor hieß. Jeder in der Mongolei, der sich für wen hielt, pflegte damals beim Sprechen wie auch beim Schreiben die Rede und den Text mit möglichst vielen Russizismen auszuschmücken wie heute mit Anglizismen. Also war das Erlangen eines breiten „Krugasor“ das Endziel der lesewütigen Mongolen. Ich bin einer, der diesen heroisch-komischen Werdegang mit eigenem Körper hat auskosten müssen, ja auch dürfen. Und was soll ich verheimlichen, dass ich in der ersten Phase meiner Berührung mit der westlichen Welt, sosehr ich gewisse Schläue und Geschicklichkeit der dortigen Bevölkerung bewunderte, über ihre Nichtbelesenheit und Unerfahrenheit jedoch auch erschrak. Und später, als ich in so manchen Verlagsräumen mit so manchen Lektoren verhandelte, spürte ich, dass die angelesenen Kenntnisse und angeeigneten Fertigkeiten des Dilettanten in mir mein Gegenüber störten. Da verfluchte ich wohl ein- oder zweimal im Stillen meine sozialistisch-nomadische Vergangenheit samt dem angeborenen Fleiß in mir, die mich in ein Arbeitstier verwandelt haben. Da war mir, als sehnte ich mich nach einem anderen Leben, das dann möglicherweise ein nach Herzenslust freies gewesen wäre – vielleicht so, wie Außenstehende sich das Leben der Naturkinder vorstellen.
Öfters aber pflegten meine Gedanken in die Gegenrichtung zu gehen. Ich bedauerte die Ahnungslosen und war dem Schicksal dankbar, dass mir gerade dieses Leben beschieden war. Und wer so denkt, der bleibt natürlich höflich. Nur einmal drohte ich, unhöflich zu werden. Und dies, als mein Gegenüber eine Bemerkung machte, die in meinem Ohr verdächtig dumm und auch noch überheblich erklang. Da schälte sich meiner Hirnrinde ein ebenso dummer und überheblicher Gedanke ab. Zum Glück sprach ich ihn nicht aus. Doch schlimm genug, dass ich es gedacht habe – nach Buddhas Lehre sündigt man nicht nur mit Körper und Zunge, sondern auch mit Gedanken.
Und der Gedanke lautete: Oh, versucht doch, ihr eingebildet blöden europiden Hirne, zu Hunderten und Tausenden gegen ein einziges mongoloides Hirn anzukommen! Nun gut, jedwedes zu seiner Zeit. So ging auch unsere Ära zu Ende.
Und da war das Nationale gefragt. Und über Nacht wandelte sich die rotmongolische Nomenklatura in eine blaumongolische Nationalistenhorde. Der erste demokratisch gewählte Präsident Otschirbat tunkt eines Tages seine Hände ins Roh-Erdöl, gerade gebohrt aus mongolischer Erde, drückt sie dann gegen seine Brust. Der schöne Deel aus sicher sehr feinem hellem Tuch bekommt augenblicklich die dunklen Spuren der Hände mit gespreizten Fingern. Womit seiner Exzellenz die genau richtige Geste gelang. Denn in alten, schon einmal überwunden geglaubten Zeiten pflegte man solches tatsächlich zu tun, um seine Freude und Ehrfurcht zu bezeugen angesichts einer großen Gabe, die einem widerfuhr. Das mit dem Präsidenten und seinem Deel, der eines Tages bestimmt zu einem einzigartigen Ausstellungsexponat im Geschichtsmuseum werden wird, war vor über zwei Jahrzenten. Nur, bis jetzt ist aus der so hoffnungsvollen Entdeckung nicht viel geworden. So viel nur: Wir geben das Rohöl einfach nach China weg. Die Chinesen gewinnen daraus Benzin und verkaufen es dann teuer an die Mongolei zurück.
Das stand erst vor zwei, drei Wochen im Internet, dass wir jetzt dauerberechtigt sind, das Benzin vom eigenen Erdöl zurückzubekommen, jeden Monat 10.000 Tonnen. Das ist zwar nicht viel, aber besser als nichts, ein erster Anfang. So kraftlos ist die mongolische Gesellschaft geworden. Warum? Weil, die Machthaber lediglich daran gearbeitet haben, sich selbst zu bereichern.
HEUTE AUF DER EINEN SEITE EINE VERSCHWINDEND KLEINE BANDE VON REICHEN, DENEN DER ÜBERWIEGENDE TEIL DES GANZEN NATIONALEINKOMMENS GEHÖRT, UND AUF DER ANDEREN SEITE DIE GROSSE VERARMTE MENSCHENMENGE, DAS NIEDRIGE VOLK.
Mittlerweile gibt es nicht nur Dollar- und Euromillionäre, sondern auch schon Milliardäre. Wenn man überlegt, vor zwanzig Jahren gab es in der Mongolei weder herausragende Reiche noch herunterfallende Arme. Dafür lebten alle ziemlich mittelmäßig, gleich arm oder gleich reich, wie man es nennen will. Heute auf der einen Seite eine verschwindend kleine Bande von Reichen, denen der überwiegende Teil des ganzen Nationaleinkommens gehört, und auf der anderen Seite die große verarmte Menschenmenge, das niedrige Volk. Und wir Mongolen, die wir uns ja so gern rühmen, Nachkommen des Mannes zu sein, der das klügste unter allen menschlichen Wesen gewesen sei: Dschingis Khan!
Spucken wir nun einmal solche Worte in die Welt hinaus, dann sollten wir doch beweisen, dass wir tatsächlich was können.