Samara blickte über ihre Schulter zu dem Mädchen. Manchmal wunderte sie sich, ob noch ein paar Überbleibsel aus ihrer Kindheit in ihr waren. Ob sie die anderen Kindern mit einer Sehnsucht nach dem, was hätte sein können, anblickte, oder ob sie ihr fremd waren. Doch Mischas Blick blieb kalt und distanziert. Sollte es Zweifel hinter diesen Augen geben, so hatte sie gelernt, ihn expertenhaft zu verstecken.
Die Blaskapelle kam um die Ecke, die Bläser schmetterten und die Trommeln rasselten. Sie hatten Samara und dem Kastenwagen den Rücken zugewandt, als sie den Häuserblock entlangmarschierten. Junge Männer in Trikots folgten zu Fuß - es war das College-Footballteam, das Süßigkeiten in die Menge warf. Kinder sprangen hervor und bückten sich in Gruppen, um es aufzuschnappen, wie Geier, die sich auf einen Kadaver stürzen.
Ein winziger Gegenstand segelte auf Samara zu und landete in der Nähe ihrer Füße. Sie hob ihn zögernd zwischen zwei Fingern auf. Es war ein Karamellbonbon. Sie musste einfach grinsen. Was war das nur für eine unglaublich bizarre Tradition: die Kinder des reichsten Landes der Welt warfen sich auf die billigste Süßigkeit, die faul vor ihnen auf das Pflaster geworfen wurde. Sie hielt das Bonbon hoch. Ein Flimmer von Neugier huschte über Mischas junges, passives Gesicht, während sie es entgegennahm.
„Spasiba,” murmelte das Mädchen. Danke. Doch anstatt es auszupacken und es zu essen, steckte sie es in ihre Jeanstasche. Samara hatte sie gut trainiert. Sie bekäme ihre Belohnung, wenn sie sie verdient hätte.
Samara erhob das Funkgerät erneut an ihren Mund. „Beginnt in dreißig Sekunden.” Sie wartete nicht auf eine Antwort. Stattdessen zog sie sich die Ohrstöpsel an, doch ein leises, helles Geräusch summte in ihnen. Die vier Männer im Laderaum des Wagens würden den Rest erledigen. Sie mussten die Waffe nicht herausholen, sie mussten nicht einmal die Rolltür am Ende des Wagens öffnen. Die Ultraschallfrequenz war fähig, durch Stahl und Glas zu dringen. Selbst Backstein beeinträchtigte nur wenig ihre Effizienz.
Samara verschloss die Hände vor sich und stand neben Mischa, zählte still mit. Sie konnte nicht mehr die Blaskapelle oder den Applaus der Zuschauer hören, sie hörte nur den elektronischen Heulton der Ohrstöpsel. Es war komisch, so viel zu sehen, doch nichts zu hören, wie ein Fernseher, bei dem man den Ton ausgeschaltet hatte. Für einen Augenblick dachte sie an das lächerliche Sprichwort: Wenn ein Baum im Wald umfällt und niemand ist in der Nähe, um ihn fallen zu hören, macht er dann einen Laut? Ihre Waffe machte kein Geräusch. Die Frequenz war zu tief, um vom menschlichen Gehör wahrgenommen zu werden. Doch trotzdem würden Leute fallen.
Samara hörte weder die Musik noch den generellen Lärm der Menschenmenge. Sie hörte auch nicht die Schreie, als sie begannen. Doch nur Momente, nachdem sie bis null gezählt hatte, sah sie, wie Körper auf den Asphalt fielen. Sie sah, wie die Bürger von Springfield in Kansas in Panik ausbrachen, rannten, aufeinander trampelten, wie die vielen Kinder, die zuvor auf die Süßigkeiten gesprungen waren. Manche wanden sich, andere übergaben sich. Instrumente krachten zu Boden und Eimer voller Bonbons fielen um. Nicht einmal fünfundzwanzig Meter von ihr entfernt fiel ein Footballspieler auf seine Hände und Knie und spuckte einen Mundvoll Blut aus.
Es lag eine solche Schönheit im Chaos. Samaras ganze Existenz war auf Regime, Protokoll und Übung aufgebaut - doch wussten nur Wenige so gut wie sie, wie unzuverlässig all das sein konnte, wenn Chaos unvorhersehbar ausbrach. In diesen Situationen zählten nur die Instinkte. In diesem Moment wurde man sich wahrhaftig über sich selbst bewusst, wozu man fähig war. Im Chaos, das sich still vor ihren Augen auftat, traten Familien auf ihre eigenen Angehörigen. Eheleute ließen ihre Partner stehen, um sich selbst zu retten. Es herrschte Verwirrung, Körper fielen um. Die Menge würde selbst mehr Schaden untereinander anrichten, als die Waffe es ihnen antäte.
Doch sie konnten nicht dort verweilen. Sie nickte Mischa zu, die um die Fahrerkabine ging und in den Beifahrersitz einstieg, während Samara sich hinter das Steuer setzte und den Schlüssel im Zündschloss umdrehte. Doch sie warf den Motor noch nicht an. Sie blieben noch eine weitere Minute - lange genug, damit man den Schaden des Attentats wirklich verheerend fände und damit jene, die sie verfolgen würden, komplett verwirrt über die Bedeutung von Springfield in Kansas wären.
KAPITEL SIEBEN
Null trat in das George Bush Center für Geheimdienst, das Hauptquartier der CIA, ein. Es lag in der Gemeinde von Langley, Virginia. Er schritt über den weiten Marmorboden, seine Schritte hallten, als er über das große runde Emblem ging. Es war ein Schild und ein Adler in grau und weiß, umrandet von den Worten „Central Intelligence Agency, United States of America”. Er schritt direkt auf die Aufzüge zu.
Es war kaum jemand da, nur die notwendigsten Sicherheitsbeamten und ein paar Verwaltungsassistenten, welche sich mit Büroarbeiten plagten. Er war immer noch ziemlich sauer darüber, dass man ihn hierher gerufen hatte, dass er an einem Feiertag von seinen Mädchen getrennt wurde. Er hoffte, dass die Einweisung kurz wäre.
Doch er wollte nicht darauf wetten.
„Halt die Tür auf”, rief eine bekannte Stimme, als Null auf den Knopf für das Untergeschoss drückte, wo das Treffen stattfand. Er hielt eine Hand aus, damit die Türen sich nicht schlossen und einen Moment später joggte Agent Todd Strickland neben ihn. „Danke, Null.”
„Die haben dich auch gerufen, was?”
„Ja.” Strickland schüttelte seinen Kopf. „Gerade, als ich im Veteranenkrankenhaus ankam.”
„Du verbringst Thanksgiving mit Veteranen?”
Strickland nickte einmal kurz, was Null als Anzeichen dafür verstand, dass er es nicht weiter besprechen wollte. Todd Strickland war Ende zwanzig, hatte einen dicken Nacken und war gut bemuskelt, bevorzugte immer noch den militärischen Haarschnitt, den er während seiner Zeit in der Armee hatte. Er hatte glänzende Augen, jungenhafte Gesichtszüge und seine glattrasierten Wangen gaben ihm eine jugendliche und zugängliche Erscheinung, doch Null wusste, dass sich hinter der Fassade eine Menge Kraft verbarg. Er war einer der besten, den die Rangers je gesehen hatten. Todd hatte fast vier Jahre seines jungen Lebens damit verbracht, Aufständische in den Wüsten des Nahen Ostens aufzuspüren. Dabei schlief er im Sand, kletterte durch Höhlen und führte Razzien in Lagern durch. Er war durch und durch ein Kämpfer und dennoch hatte er es geschafft, eine Anteilnahme zu bewahren, die genauso stark wie sein Pflichtbewusstsein war.
„Hast du eine Ahnung, worum es geht?” fragte Null, als die Fahrstuhltüren aufgingen.
„Wenn ich drauf wetten müsste, würde ich sagen, dass es sich womöglich um das Attentat in Havanna von letzter Nach dreht.”
„Es gab ein Attentat in Havanna letzte Nacht?”
Strickland kicherte ein wenig. „Du schaust echt keine Nachrichten, oder?” Er schritt einen leeren Gang entlang. Es schien, dass fast alle von Langley den Feiertag zu Hause mit ihren Familien verbrachten - außer ihnen natürlich.
„Ich war ein bisschen beschäftigt”, gab Null zu.
„Ach ja, wie geht’s den Mädchen denn?” Strickland kannte Maya und Sara. Als die Leben der beiden von einem psychopathischen Attentäter bedroht wurden, schwor der junge Agent, dass er auf sie aufpassen würde, egal ob Null da war oder nicht. Bisher hatte er sich an sein Wort gehalten.
„Sie...” Er wollte fast schon sagen „ihnen geht’s gut”, doch er hielt sich zurück. „Sie СКАЧАТЬ