HIPPIES, PRINZEN UND ANDERE KÜNSTLER. Klaus Hübner
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СКАЧАТЬ in Berlin geborene Literat ist auch ohne Darmstädter Weihen einer der besten deutschen Prosaautoren.

      Nach dem Zweiten Weltkrieg, den er noch mitmachen musste, arbeitete er als Lehrer und als Bibliothekar in und um Berlin. Nebenher entstanden Hörspiele und Erzählungen. Mit seinem bald auch in der BRD publizierten zweiten Roman Buridans Esel (1968) kam dann der Erfolg. Noch größeres Ansehen erwarb sich de Bruyn mit der Biografie Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter (1975), die auch nach der Publikationsflut im Jean-Paul-Jahr 2013 unübertroffen und glanzvoll dasteht. Dieses wundervolle Buch, das viel mehr ist als nur eine Problematisierung des Gebrauchswerts von Person und Werk Jean Pauls für die DDR, stellt die Grundlage dar für seine intensive Beschäftigung mit der Geistesepoche um 1800. Die Hinwendung zum Romantischen und Regionalen hatte in der DDR enorme kulturpolitische Bedeutung – weder de Bruyns ironische Erzählung Märkische Forschungen (1978) noch seine kenntnisreichen Kommentare zu den von ihm herausgegebenen Schriften von Fouqué, Hoffmann, Tieck und zahlreichen anderen Dichtern blieben ohne Widerspruch. Zum Kernbestand der in der DDR entstandenen Literatur gehören die Romane Preisverleihung (1972) und Neue Herrlichkeit (1984).

      Günter de Bruyn war ein angesehenes Mitglied des DDR-Schriftstellerverbands und des PEN-Zentrums, und er durfte in den Westen reisen. Mit der Staatsmacht paktierte er nicht – die Leser wie Autoren entwürdigende »Druckgenehmigungspraxis« und generell die Unfreiheit im Lande kritisierte er mehrfach deutlich. Nach der Wende legte er dar, wie es ihm als jungem Mann ergangen war: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin (1992) und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht (1996) sind Meisterwerke der »Selberlebensbeschreibung« (Jean Paul). Dann aber hörte er mit dem im engeren Sinn literarischen Schreiben auf und vergrub sich ganz in seine märkischen Forschungen.

      Der Geschichte des einstigen Preußen und seiner Geburtsstadt Berlin widmete dieser liebenswürdige und liebenswerte Autor sein gesamtes Spätwerk. Schon über siebzig Jahre war er alt, als die Preußische Trilogie erschien (Die Finckensteins / Preußens Luise / Unter den Linden). Stilistisch brillant wie eh und je wurde eine ganz spezielle, Zeithistorie mit Regionalgeschichte verschränkende, das Große im Kleinen sichtbar machende »poetische Heimatkunde« zu seinem Markenzeichen. Wie tiefgründig und reichhaltig die Meisterwerke Als Poesie gut. Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807 (2006) und Die Zeit der schweren Not. Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807–1815 (2010) wirklich sind, ist noch lange nicht erforscht.

      Zuvor hatte er eine grandiose »Liebeserklärung an eine Landschaft« vorgelegt: Abseits (2005). Um Spuren einstigen Lebens zwischen Storkow, Beeskow und Lübben geht es öfter, auch in seiner hinreißenden poetischen Skizze Kossenblatt (2014), in der ein »vergessenes Königsschloss« im Zentrum steht – erneut eine Liebeserklärung, eine sehr melancholische allerdings. Dazu kommen Episoden aus der preußischen Historie, amüsante Bücher wie Gräfin Elisa (2012) oder Die Somnambule oder des Staatskanzlers Tod (2015).

      Das neue Werk über den romantischen Dichter Zacharias Werner (1768–1823) gehört zu seinen präzise recherchierten und bestens lesbaren Biografien, die es an Lebensweisheit getrost mit dem großen Montaigne aufnehmen können. Der aus Königsberg stammende Werner war ein maß- und rastloser, innerlich zerrissener Mann, ein durch halb Europa hetzender Getriebener mit unwiderstehlichem Drang zum Küchenpersonal. Seine sexuellen Aktivitäten verbuchte er meistens unter »Mädchenprügelei«, was den dieses Thema sonst eher meidenden Biografen zu der Erklärung veranlasst: »… ein Begriff, der vermutlich nichts mit Gewaltanwendung zu tun hat, sondern sich auf die vulgäre Bezeichnung Prügel für das männliche Geschlechtsorgan bezieht.« Die berühmte Madame de Staël immerhin hat Zacharias Werner, dessen Theaterstücke dank der Inszenierungen von August Wilhelm Iffland seit 1806 recht erfolgreich waren, ein ganzes Kapitel ihres Kultbuchs De l’Allemagne gewidmet: »Seitdem Schiller tot ist und Goethe nicht mehr für das Theater schreibt, ist Werner unter den dramatischen Schriftstellern Deutschlands der erste«, heißt es dort. Heute sind die Dramen weitgehend vergessen, ihr Urheber eigentlich auch – Günter de Bruyn aber schafft es mühelos, das Interesse neu zu entfachen. Gerade die oft kuriosen Abschweifungen in kultur- und sozialhistorische, topografische oder naturkundliche Details machen die Lektüre von Günter de Bruyns Spätwerken zum Genuss. Leseglück pur!

      Günter de Bruyn: Sünder und Heiliger. Das ungewöhnliche Leben des Dichters Zacharias Werner. Frankfurt am Main 2016: S. Fischer Verlag. 224 S.

      

      Neue Herrlichkeit? Ein polemisches Dorfidyll aus den späten Merkeljahren

      »So wie mich frühere Albträume in die Männerwelt des Militärs zurückversetzten, muss ich mich jetzt in Reih und Glied inmitten bärtiger Männer auf einem Gebetsteppich hocken sehen«, schreibt der alte Leonhardt Leydenfrost an Fatima, die aus Bosnien stammende Adoptivtochter seiner noch älteren Schwester. Diese Hedwig war als junges Mädchen eine begeisterte Jungmädelführerin gewesen, konnte sich das später nicht verzeihen und versuchte, es als »radikale Wortführerin der außerparlamentarischen Opposition« wiedergutzumachen. Nun steht ihr neunzigster Geburtstag bevor, was ihr Gelegenheit verschafft, noch einmal politisch wirksam zu werden – ihre Festgäste sollen, so hat sich Fatima das ausgedacht, um Geldspenden für Flüchtlingskinder gebeten werden. Geburtstagsvorbereitungen auf dem Lande also, im idyllisch gelegenen Wittenhagen im Südosten Brandenburgs. Mittendrin Leonhardt alias Leo, dessen Lebenslauf stark an den des Schriftstellers Günter de Bruyn erinnert. Leo! Sogar im Traum hadert er mit einer Welt, die schon lange nicht mehr die seine ist. Die jungen Leute, also alle unter achtzig, grüßen mit einem aufdringlichen »Hallo!« und verhunzen auch sonst die schöne deutsche Sprache. Genderwahn allerorten, aber keiner kann mehr Uhland oder Mörike rezitieren. Die geschäftstüchtigen einstigen Genossen, die die Devise »vorwärts immer, rückwärts nimmer« zu ihrem Lebensmotto gemacht haben, kassieren erst einmal bei einem Projekt für Flüchtlinge ab und stellen, weil die Syrer und Afghanen nach Berlin und nicht »in die Wüste« wollen, dann doch lieber das protzige »Holiday Resort Seeblick« ins Dorf. Der auf geschlechtsneutrale Bibellesungen bedachte Aushilfspastor weigert sich, »Ein’ feste Burg ist unser Gott« oder andere »inkorrekte Lieder« anzustimmen, während sich seine Landeskirche den »Luxus von Dorffriedhöfen« nicht länger leisten will. Dann die Großwetterlage: die allmächtige Kanzlerin mit ihrer absurden »Willkommenskultur«, der jeder Vernunft hohnsprechende Quatsch à la »Ehe für alle!« oder »Keine Obergrenze!«, die schrillen Medien mit ihren politisch korrekten Lügen – nein, ein »ländliches Idyll« ist Wittenhagen schon lange nicht mehr. Jedenfalls nicht für Leo, den deutschen Bildungsbürger par excellence, der es niemals verwunden hat, dass sein einziger Sohn ein beinhartes SED-Mitglied geworden war und den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte. Leo ist die heimliche Hauptfigur dieser recht konventionell erzählten Geschichte, und angesichts seiner zeitkritischen Nörgeleien ist es schon fast Nebensache, dass die lange und umständlich geplante Geburtstagsfeier völlig anders verläuft als vorgesehen.

      Der heute zweiundneunzigjährige Günter de Bruyn, der nach der Wende Meisterwerke der »Selberlebensbeschreibung« (Jean Paul) vorgelegt hat, dann mit Herzblut und Akribie in die Kulturgeschichte Berlins und Preußens eingetaucht ist und in den letzten Jahren eine ganz besondere Art von »poetischer Heimatkunde« der Oder-Spree-Region etabliert hat, veröffentlicht, vierunddreißig Jahre nach seinem letzten Roman Neue Herrlichkeit (1984), eine 2015/16 spielende Familiengeschichte, die man getrost »Roman« nennen darf. Es ist ein durch und durch politisches Buch geworden, das mit Sicherheit höchst kontrovers aufgenommen werden wird, schon weil das liberale »juste milieu« der Bundesrepublik heftig eins auf die Mütze kriegt. Ein wichtiges Buch übers Älter- und Altwerden ist es übrigens auch. Literarisch betrachtet gibt es einiges auszusetzen, an der Zeichnung der Charaktere, an der Holzschnittartigkeit mancher Dialoge und ganz allgemein an der bisweilen ins Banale abdriftenden Sprache – man liest Sätze, die diesem stilbewussten Autor noch vor zehn Jahren nicht unterlaufen wären. Man sieht es ihm nach, weil die Inhalte wichtiger scheinen. Der СКАЧАТЬ