Название: Retromania
Автор: Simon Reynolds
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783955756086
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Anstatt die Schwelle in die Zukunft zu verkörpern, waren die ersten zehn Jahre des 21. Jahrhunderts das »Re-«Jahrzehnt. Die 2000er waren von dem Präfix »Re-« bestimmt: Revivals, Reissues, Remakes. Endlose Retrospektive: Jedes Jahr brachte eine neue Flut von Jubiläen mit dem dazugehörigen Überschuss an Biografien, Erinnerungen, Rockumentationen, Biopics und Jubiläumsausgaben von Magazinen mit sich. Und dann gab es die Bands, die sich reformierten; entweder waren es Gruppen, die sich für Nostalgie-Touren wiedervereinigten, um die leeren Konten der Band-Mitglieder wieder aufzufüllen (oder deren volle Konten noch weiter aufzublähen – Police, Led Zeppelin, Pixies … die Liste ist endlos), oder es waren Bands, die ins Studio zurückkehrten, um die Karrieren ihrer Musiker wieder anzukurbeln (Stooges, Throbbing Gristle, Devo, Fleetwood Mac, My Bloody Valentine …).
Wären doch bloß lediglich alte Musik und alte Musiker wieder zurückgekehrt, sei es in »archivierter Form« oder als wiederbelebte Performer. Aber die 2000er waren auch das Jahrzehnt des ungezügelten Recyclings: Vergangene Genres wurden wiederbelebt oder erneuert, verstaubte Aufnahmen wurden neu bearbeitet und neu kombiniert. Viel zu häufig konnte man unter der straffen Haut und den rosa Wangen junger Bands das schlaffe graue Fleisch alter Ideen durchschimmern sehen.
Je weiter die 2000er voranschritten, desto mehr schrumpfte der Abstand zwischen einem Ereignis und seiner Wiederverwertung auf frappierende Weise. Die I Love the … -Fernsehserie, die erst von der BBC ausgestrahlt und dann für Amerika von VH1 übernommen wurde, brauste durch die 70er, 80er und 90er und nahm dann – mit I Love the Millennium, die im Sommer 2008 gesendet wurde – die 2000er gleich mit, noch bevor das Jahrzehnt überhaupt vorbei war.
Inzwischen greifen die Tentakel der Wiederveröffentlichungsindustrie bereits nach den 90ern, mit Box-Sets und neu gemasterten oder erweiterten Versionen von deutschem Minimal Techno, Britpop und selbst den schwächsten Soloalben von Morrissey. Wir stehen bereits knöcheltief in einer zunehmenden Flut historisierter Vergangenheit. Wenn es um Revivals ging, hielt sich die Musikszene zunächst an die 20-Jahre-Regel: In Form von Post-Punk-, Elektropop- und zuletzt Gothic-Auferstehungen waren die 80er während fast der gesamten 2000er »in«. Aber mit der Nu-Rave-Mode und dem zunehmenden Interesse neuer Indie-Bands an Shoegaze, Grunge und Britpop deutete sich schon früh ein 90er-Revival an.
Das Wort »Retro« hat eine konkrete Bedeutung: Es meint die selbstreflexive Fetischisierung eines bestimmten Zeitraums (in der Musik, Mode oder im Design), die durch Nachahmung und Zitat kreativ ausgedrückt wird. Im engeren Sinne ist Retro die Domäne von Ästheten, Connaisseuren und Sammlern, also von Leuten mit beinahe akademischem Wissenshorizont und einem scharfen Sinn für Ironie. Aber das Wort ist inzwischen in einer viel weiter gefassten Bedeutung gebräuchlich und dient dazu, so ziemlich alles zu beschreiben, was irgendeinen Bezug zur jüngeren Geschichte hat. Im Sinne dieser weiter gefassten Verwendung des Wortes untersucht Retromania die gesamte Bandbreite des gegenwärtigen Gebrauchs und Missbrauchs der Vergangenheit von Pop. Die Gegenwärtigkeit der alten Popkultur wurde immer deutlicher spürbar: Komplette Backkataloge sind weiterhin verfügbar, auf YouTube ist ein riesiges kollektives Archiv entstanden. Gleichzeitig hat sich die Art und Weise, wie wir Musik konsumieren, verändert, nicht zuletzt dank eines Geräts wie dem iPod, der oft als persönlicher »Oldies«-Radiosender dient. Dazu kommt noch, dass Rockmusik nach etwa 50-jähriger Geschichte auf natürliche Weise ergraut ist: Es gibt Musiker, die immer noch touren und Alben aufnehmen, genauso wie Künstler, die nach langer Zeit des Schweigens wieder ein Comeback starten. Und schließlich gibt es »neue alte« Musik von jungen Leuten, die sich stark an der Vergangenheit orientieren, häufig auf eine allzu deutliche, überzogene Weise.
Auch frühere Epochen waren von der Vergangenheit besessen – angefangen bei der Ehrfurcht, die man in der Zeit der Renaissance vor der römischen und griechischen Antike hatte, bis hin zur Verehrung des Mittelalters während der englischen Romantik. Jedoch gab es bisher in der Geschichte der Menschheit keine Gesellschaft, die so von den kulturellen Artefakten ihrer eigenen jüngsten Vergangenheit besessen war. Das ist es, was Retro von der Begeisterung für Antiquitäten oder Historisches unterscheidet: die Faszination für Moden, Trends, Sounds und Stars, die man noch lebhaft in Erinnerung hat. Gemeint sind Phänomene, die man bereits bei der ersten Begegnung bewusst als Bestandteil der Popkultur wahrgenommen hatte – im Unterschied zu den Sachen, die unbemerkt an einem vorüberzogen, als man noch ein kleines Kind war.
Diese Form der Retromanie ist in unserer Kultur zu einer vorherrschenden Kraft geworden, es fühlt sich fast nach einer Trendwende an. Hindert die Nostalgie unsere Kultur daran, voranzupreschen, oder verfallen wir der Nostalgie, weil unsere Kultur keinen Fortschritt produziert und wir deshalb unweigerlich auf Zeiten zurückblicken, die uns bedeutsamer und rasanter erscheinen? Aber was passiert, wenn wir die Vergangenheit zur Gänze abgegrast haben? Bewegen wir uns auf eine Art kultur-ökologische Katastrophe zu, wenn der Flöz der Popgeschichte ausgebeutet ist? Und was von all dem, was sich in diesem Jahrzehnt ereignet hat, kann den Nostalgie-Wahn und die Retro-Trends der Zukunft bedienen?
Ich bin nicht der einzige, der diesen Perspektiven ratlos gegenübersteht. Ich habe aufgehört, die Kolumnen und Blogs zu zählen, die besorgt und händeringend fragen, was mit Innovationen und Umbrüchen in der Musik geschehen ist. Wo sind die bedeutenden neuen Genres und Subkulturen des 21. Jahrhunderts? Manchmal sind es die Musiker selbst, die an den ermüdenden Déjà-vus leiden. 2007 verkündete Sufjan Stevens in einem Interview: »Rock’n’Roll ist ein Museumsexponat … Es gibt heute großartige Rockbands – ich liebe die White Stripes, ich liebe die Raconteurs, aber sie sind reif fürs Museum. In die Clubs zu gehen, wo deren Musik gespielt wird, ist wie den Geschichtssender anzusehen. Sie wiederholen nur eine vergangene Stimmung. Sie beschwören die Geister dieser Epoche herauf – The Who, Punk Rock, die Sex Pistols, was auch immer. Aber das ist vorbei, die Rebellion ist vorbei.«
Aber freilich krankt nicht allein die Popmusik an der Vergangenheit: Man muss sich nur die Manie verdeutlichen, mit der Hollywood Remakes von Blockbustern macht, die ein paar Jahrzehnte zurückliegen: Alfie, Ocean’s Eleven, Die Bären sind los, Casino Royale, Der rosarote Panther, Hairspray, Reise zum Mittelpunkt der Erde, Fame, Tron, True Grit … Für die nahe Zukunft sind Remakes von Die Fliege (ja, er wird zum dritten Mal gedreht), Die unglaubliche Geschichte des Mister C., Das dreckige Dutzend … versprochen, während Russell Brand in Remakes von Mein böser Freund Fred auftreten wird. Wenn sie nicht bewährte Kassenschlager der Vergangenheit aufmotzt, adaptiert die Filmindustrie beliebte »Kult«-Fernsehserien für die Leinwand, wie Ein Duke kommt selten allein, Drei Engel für Charlie und Mini-Max, ebenso wie längst vergangene Kinder-Cartoons wie Yogi Bär und Die Schlümpfe. Irgendwo dazwischen liegt Star Trek, das Mitte 2009 auf die Leinwand zurückkehrte: Es handelte sich dabei nicht im engeren Sinne um ein Remake, sondern um ein Prequel (der Untertitel fiel ungewollt ironisch aus: »Die Zukunft hat begonnen«) mit Spock und Kirk in ihren jungen Jahren. Dieser Film versucht, zwischen der generationenübergreifenden, zunehmenden Begeisterung für die Originalfernsehserie aus den 60ern, den Filmen der 80er und der darauf folgenden Fernsehserie Star Trek: The Next Generation zu versöhnen.
Im Theater gibt es eine lange Tradition, kanonische Stücke und populäre Musicals wiederzubeleben. Aber auch hier setzen sich Remakes und Spinoffs mit Produktionen wie Spamalot (basierend auf Monty Python und die Ritter der Kokosnuss) und »Jukebox Musicals« durch, zusammengesetzt aus den Golden Oldies legendärer Bands oder aus klassischen Genres: We Will Rock You (Queen), Good Vibrations (Beach Boys), The Times They Are A-Changin’ (Bob Dylan) und Rock of Ages (80er-Hair-Metal). Es gibt sogar »Jukebox-TV« mit Sendungen wie Glee oder Pop Idol/American Idol (mit Beatles-Nächten, Stones-Nächten etc.), die Rock und Soul auf die harmlose Tradition des Showbusiness / leichter Unterhaltung / des Varieté herunterbrechen. Auch das Fernsehen ist mit Remakes auf den Zug СКАЧАТЬ