Название: Gesammelte Werke von Dostojewski
Автор: Федор Достоевский
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027204205
isbn:
»Aber du sagst doch, daß sie so häßlich ist«, bemerkte der Offizier.
»Sie hat so eine braune Gesichtsfarbe, wie wenn sich ein Soldat Frauenkleider angezogen hätte; aber, weißt du, sehr häßlich ist sie keineswegs. Sie hat ein gutmütiges Gesicht und einen guten Ausdruck in den Augen, einen sehr guten Ausdruck. Es ist ganz erklärlich, daß sie vielen gefällt. Sie ist so still, sanft, unverdrossen, willig, zu allem willig. Und ihr Lächeln nimmt sich sogar sehr hübsch aus.«
»Na, sie gefällt dir wohl auch?« lachte der Offizier.
»Nun ja, der Kuriosität halber. Aber ich will dir mal etwas sagen: Diese verfluchte Alte möchte ich totschlagen und berauben, und«, fügte er eifrig hinzu, »ich versichere dir, daß ich es ohne alle Gewissensbisse tun würde.«
Der Offizier lachte wieder laut auf; Raskolnikow aber fuhr zusammen. Wie seltsam, daß er all das hier zu hören bekam!
»Erlaube mal, ich möchte dir eine ganz ernsthafte Frage vorlegen«, fuhr der Student, hitzig werdend, fort. »Ich habe jetzt eben natürlich nur im Scherz gesprochen; aber überlege mal: auf der einen Seite steht ein dummes, verdrehtes, wertloses, boshaftes, krankes, altes Weib, das niemandem nützt, sondern im Gegenteil allen Leuten nur schadet, das selbst nicht weiß, wozu es eigentlich lebt, und nächster Tage ganz von selbst sterben wird. Verstehst du wohl? Verstehst du wohl?«
»Nun ja, das verstehe ich schon«, erwiderte der Offizier und blickte seinen Bekannten, der stark in Eifer geriet, unverwandt und aufmerksam an.
»Höre weiter! Auf der andern Seite stehen junge, frische Kräfte, die, ohne der Welt nützen zu können, zugrunde gehen, weil sie keine Unterstützung finden, und zwar zu Tausenden, allüberall. Hundert, tausend gute Taten und Unternehmungen könnte man für das Geld der Alten, das sie einem Kloster zugedacht hat, ausführen oder fördern. Hunderte, vielleicht Tausende von Existenzen könnten in die richtige Bahn geleitet, Dutzende von Familien vor größter Armut, vor dem Verfall, vor dem gänzlichen Ruin, vor Unsittlichkeit und Geschlechtskrankheiten bewahrt werden – und alles das vermittels ihres Geldes. Wenn man sie ermordet und ihr Geld nimmt, um dann mit dessen Hilfe sich dem Dienste der ganzen Menschheit und der Sache der Allgemeinheit zu widmen: was meinst du, wird dann nicht ein einziges kleines Verbrechen durch Tausende von guten Taten aufgewogen? Für ein Leben Tausende von Leben, die von Fäulnis und Ruin gerettet sind? Ein einziger Tod, und dafür hundert Leben – das ist doch ein einfaches Rechenexempel! Ja, und was bedeutet auf der großen Weltwaage das Leben dieses schwindsüchtigen, dummen, boshaften alten Weibes? Nicht mehr als das Leben einer Laus, einer Schabe, sogar noch weniger, weil die Alte geradezu schädlich ist. Sie verkümmert anderen das Leben: neulich hat sie ihre Schwester Lisaweta vor Wut in den Finger gebissen, so daß er beinahe amputiert werden mußte.«
»Gewiß, sie verdient nicht, daß sie lebt«, entgegnete der Offizier. »Aber die Natur hat es nun doch einmal so eingerichtet.«
»Ach was, Bruder, die Natur kann man doch korrigieren und lenken, sonst müßten wir ja in unsern beschränkten, engherzigen Anschauungen geradezu versinken. Sonst gäbe es keine großen Männer. Es heißt immer: ›Pflicht, Gewissen‹; nun, ich will ja gegen Pflicht und Gewissen nichts sagen; aber was versteht man eigentlich darunter? Warte mal, ich will dir noch eine Frage vorlegen. Hör mal!«
»Nein, nun warte du mal; jetzt werde ich dich etwas fragen. Paß mal auf!«
»Nun?«
»Du hältst da jetzt großartige Reden; aber sage doch mal: würdest du selbst die Alte totschlagen, ja oder nein?«
»Selbstverständlich nein! Ich will ja auch nur sagen, was gerecht und billig wäre. Um mich handelt es sich dabei nicht.«
»Wenn du selbst dich dazu nicht entschließen kannst, so kann meiner Ansicht nach von Gerechtigkeit und Billigkeit dabei nicht die Rede sein. Komm, wir wollen noch eine Partie spielen!«
Raskolnikow befand sich in großer Aufregung. Gewiß, das waren ja ganz gewöhnliche, häufige, jugendlich unreife Gespräche und Gedanken, wie er sie schon oft, nur in andrer Form und über andre Gegenstände, mit angehört hatte. Aber warum mußte er gerade ein solches Gespräch und solche Gedanken gerade jetzt, mit anhören, wo soeben in seinem eigenen Kopfe ganz ebensolche Gedanken rege geworden waren? Und warum mußte er, gerade unmittelbar nachdem er von seinem Besuche bei der Alten den Keim zu seinem Gedanken mitgebracht hatte, auf ein Gespräch über die Alte stoßen? Dieses Zusammentreffen erschien ihm auch später immer seltsam. Dieses unbedeutende Wirtshausgespräch übte hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Sache einen ganz außerordentlichen Einfluß auf ihn aus, als ob da wirklich eine Art von Prädestination, von Fingerzeig vorgelegen hätte …
Als er vom Heumarkte nach Hause zurückgekehrt war, warf er sich auf das Sofa und blieb eine ganze Stunde dort sitzen, ohne sich zu rühren. Unterdes war es dunkel geworden; eine Kerze besaß er nicht; auch kam ihm gar nicht der Gedanke, daß es Zeit wäre, Licht anzuzünden. Er konnte sich später niemals erinnern, ob er damals überhaupt an etwas gedacht hatte. Endlich spürte er wieder das Fiebern und Frösteln von vorhin, und mit einem Wonnegefühl kam ihm wie eine Erleuchtung der Gedanke, daß man auf einem Sofa auch liegen könne. Sofort überfiel ihn ein fester, bleierner Schlaf, der wie ein Alp auf ihm lastete.
Er schlief sehr lange und traumlos. Nastasja, die am andern Morgen um zehn Uhr zu ihm hereinkam, rüttelte ihn nur mit Mühe wach. Sie brachte ihm Tee und Brot. Der Tee war wieder ein zweiter Aufguß und wieder in ihrer eigenen Teekanne.
»Er schläft noch!« rief sie empört. »Immer schläft und schläft er!«
Mühsam richtete er sich auf. Der Kopf tat ihm weh; er war im Begriff, sich auf die Füße zu stellen, da blickte er sich in seinem Kämmerchen um und sank wieder auf das Sofa zurück.
»Willst du denn noch mehr schlafen?« rief Nastasja. »Du bist wohl gar krank?«
Er antwortete nicht.
»Willst du Tee?«
»Nachher«, brachte er mit Anstrengung hervor, machte die Augen zu und drehte sich nach der Wand.
Nastasja blieb ein Weilchen neben ihm stehen.
»Vielleicht ist er wirklich krank«, sagte sie dann, drehte sich um und ging weg.
Um zwei Uhr kam sie wieder herein mit einer Suppe. Er lag immer noch wie vorher da. Der Tee stand unangerührt. Nastasja fühlte sich ordentlich gekränkt und stieß ihn ärgerlich an.
»So ein Langschläfer!« rief sie ganz empört.
Er setzte sich auf, erwiderte ihr aber nichts und blickte auf den Fußboden.
»Bist du krank oder nicht?« fragte Nastasja und erhielt wieder keine Antwort. »Geh doch wenigstens auf die Straße«, sagte sie nach einer kleinen Weile, »und laß dich ein bißchen vom Winde anblasen. Willst du nicht etwas essen?«
»Nachher«, antwortete er mit matter Stimme. »Geh jetzt fort.«
Er winkte ab, als wollte er von nichts mehr wissen.
СКАЧАТЬ