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Freiheit nicht für eine behagliche Existenz hingeben; für ganz Schleswig-Holstein würde sie sie nicht hingeben, geschweige denn für Herrn Lushin. Nein, so war Dunja, soweit ich sie kannte, ganz und gar nicht, und… sie wird sich gewiß auch jetzt nicht geändert haben! Das ist ja nicht zu bestreiten: es ist ein schwer Ding, mit Leuten vom Schlage des Herrn Swidrigailow zu tun zu haben; es ist ein schwer Ding, für zweihundert Rubel sein lebelang als Gouvernante von einem Gouvernement nach dem andern zu ziehen! Aber das weiß ich dennoch sicher, daß meine Schwester eher Sklavin bei einem Pflanzer oder Magd bei einem Deutschen in den Ostseeprovinzen werden als ihren Geist und ihr sittliches Gefühl durch die Verbindung mit einem Menschen herabwürdigen würde, den sie nicht achtet und mit dem sie innerlich nichts gemein hat – lebenslänglich, nur um ihres persönlichen Vorteils willen! Und bestände Herr Lushin ganz aus purem Golde oder wäre er ein einziger Brillant, auch dann würde sie nicht einwilligen, Herrn Lushins legitime Beischläferin zu werden! Warum willigt sie denn jetzt ein? Wo steckt der Grund? Welches ist die Lösung des Rätsels? Die Sache ist klar: um ihrer selbst willen, um sich ein behagliches Dasein zu schaffen, ja, selbst um sich vom Tode zu retten, würde sie sich nicht verkaufen; aber um eines andern willen ist sie imstande, sich zu verkaufen! Um eines lieben, vergötterten Menschen willen verkauft sie sich! Und das ist der Schlüssel zu ihrer Handlungsweise: um des Bruders, um der Mutter willen verkauft sie sich, verkauft sie alles, was sie hat. Oh, wenn es sich darum handelt, ersticken wir auch unser sittliches Gefühl; wir bringen unsre Freiheit, unsre Ruhe, sogar unser Gewissen, alles, alles auf den Trödelmarkt. Mag auch unser Leben zerstört sein, wenn nur diese unsre geliebten Angehörigen glücklich sind! Und daran nicht genug: wir ersinnen uns noch eine eigene Kasuistik, gehen bei den Jesuiten in die Lehre, beruhigen vielleicht für einige Zeit unser eigenes Herz und überreden uns, daß es so nötig, tatsächlich nötig war für den guten Zweck. Ja, so sind wir, und alles ist sonnenklar. Es ist klar, daß es sich hier um keinen andern als um Rodion Romanowitsch Raskolnikow handelt und daß er im Vordergrund steht. Nun natürlich, sie, die gute Schwester, kann ja sein Glück begründen, ihn auf der Universität erhalten, ihn bei dem Büro zum Kompagnon machen, sein ganzes Schicksal sicherstellen; wer weiß, ob er nicht später noch reich wird und als ein angesehener, geachteter, vielleicht sogar berühmter Mann sein Leben beschließt. Und die Mutter? Es handelt sich ja um Rodja, den teuren Rodja, den Erstgeborenen! Nun, wie sollte man um eines solchen Erstgeborenen willen nicht eine solche Tochter opfern? Oh, ihr lieben, ungerechten Seelen! Ei nun, unter diesen Umständen weigern wir uns nicht, sogar das Los einer Sonjetschka auf uns zu nehmen! Sonjetschka, Sonjetschka Marmeladowa, die ewige Sonjetschka, solange die Welt steht! Habt ihr beide aber auch die Größe dieses Opfers in vollem Umfange ermessen? Wirklich? Reicht die Kraft zu? Bringt es Nutzen? Ist es vernünftig? Weißt du auch, liebe Dunja, daß Sonjas Los in keiner Weise schrecklicher ist als das deine an Herrn Lushins Seite? »Liebe kann nicht vorhanden sein«, schreibt Mama. Wie aber, wenn nicht nur keine Liebe, sondern auch keine Achtung vorhanden sein kann, sondern im Gegenteil sich bereits Abneigung, Geringschätzung und Widerwillen entwickelt haben, was dann? Und es stellt sich dann auch in dieser Situation wieder die Notwendigkeit heraus, »auf Sauberkeit bedacht zu sein«? Oder ist es etwa nicht so? Verstehst du, verstehst du, verstehst du auch wirklich, was es mit dieser Sauberkeit für eine Bewandtnis hat? Verstehst du, daß die Sauberkeit der Frau Lushina völlig auf gleicher Stufe steht mit Sonjas Sauberkeit und vielleicht noch schlimmer, häßlicher und gemeiner ist, weil du, liebe Dunja, dabei doch auch auf einen entbehrlichen Komfort spekulierst, während es sich dort einfach um den Hungertod handelt! Diese Sauberkeit kostet viel, sehr viel, liebe Dunja! Und wenn dann schließlich die Kraft doch nicht zureicht und sich die Reue einstellt? Wieviel Gram, Trauer, Selbstverwünschungen und Tränen werden dir dann beschieden sein. Tränen, die sich vor aller Augen verbergen, da du eben keine Marfa Petrowna bist, die allen alles sagt! Und was wird dann aus der Mutter werden? Sie ist ja schon jetzt beunruhigt und quält sich; wie wird es erst dann sein, wenn sie alles klar durchschaut? Und wie wird es mit mir stehen? … Ja, was hast du dir denn eigentlich von mir gedacht? Ich will dein Opfer nicht, liebe Dunja; ich will es nicht, liebe Mama! Das soll und darf nicht geschehen, solange ich lebe; es soll und darf nicht geschehen! Ich nehme das Opfer nicht an!«
Plötzlich durchzuckte ihn ein andrer Gedanke, und er blieb stehen.
»Es soll nicht geschehen! Aber was willst du denn tun, um es zu verhindern? Willst du es verbieten? Was hast du dazu für ein Recht? Was kannst du ihnen deinerseits als Entgelt dafür versprechen, daß sie dir hierin willfahren? Willst du ihnen versprechen, ihnen deine ganze Zukunft, deine ganze Existenz zu weihen, wenn du die Studien absolviert und eine Stelle erhalten haben wirst? Schön gesagt; aber das ist ja noch in weiter Ferne; was soll aber jetzt gleich geschehen? Es muß doch jetzt sofort etwas getan werden, begreifst du das? Du aber, was tust du jetzt? Du plünderst sie aus. Geld verschaffen sie sich, indem sie die Pension von hundertzwanzig Rubeln verpfänden und sich von Swidrigailows Vorschuß geben lassen! Wie wirst du sie gegen die Swidrigailows und Afanassij Iwanowitsch Wachruschin schützen, du künftiger Millionär, du Jupiter, der du ihr Schicksal ordnest und lenkst? Wohl nach zehn Jahren? Aber in zehn Jahren ist deine Mutter schon blind vom Tüchersäumen, vielleicht auch vom Weinen, und krank und abgezehrt vom Fasten. Und deine Schwester? Nun, überlege einmal, wie es mit deiner Schwester nach zehn Jahren stehen mag, wie es ihr während dieser zehn Jahre vielleicht geht! Kannst du dir davon ein Bild machen?«
So quälte und höhnte er sich mit diesen Fragen; er empfand dabei sogar eine Art von Genuß. Übrigens waren alle diese Fragen ihm nicht neu und traten ihm nicht erst jetzt unerwartet entgegen; es waren alte Fragen, die ihn schon geraume Zeit gepeinigt hatten. Schon lange war es her, daß sie angefangen hatten, ihn zu martern, sein Herz zu zerfleischen. Schon vor langer, langer Zeit war dieser ganze jetzige schwere Gram in seinem Innern entstanden, war herangewachsen und angeschwollen, und nun war er in der letzten Zeit herangereift und hatte sich zu einer schrecklichen, wilden, gespenstischen Frage konzentriert, die ihm Herz und Geist folterte und unabweisbar nach einer Lösung verlangte. Jetzt nun traf ihn auf einmal der Brief seiner Mutter wie ein Donnerschlag. Es war klar: jetzt durfte er nicht mehr sich grämen, passiv leiden und über die Unlösbarkeit dieser Fragen reflektieren, sondern er mußte unbedingt etwas tun, und zwar sofort, so schnell wie möglich. Unter allen Umständen mußte er sich entscheiden, nach irgendeiner Seite hin, oder…
»Oder ich muß überhaupt auf ein lebenswertes Leben verzichten!« rief er in plötzlich hervorbrechender Wut. »Muß gehorsam das Schicksal hinnehmen, wie es eben ist, ein für allemal, und alle Wünsche in mir ersticken und auf jedes Recht zu handeln, zu leben und zu lieben verzichten!«
›Verstehen Sie, verstehen Sie, verehrter Herr, was das besagen will, wenn man nirgends mehr hingehen kann?‹ Diese Frage, die er gestern von Marmeladow gehört hatte, fiel ihm auf einmal ein. ›Es müßte doch jeder Mensch wenigstens irgendwohin gehen können.‹
Da fuhr er zusammen. Ein andrer Gedanke, auch einer vom gestrigen Tage, tauchte wieder in ihm auf. Er fuhr aber nicht deshalb zusammen, weil ihm dieser Gedanke wieder gekommen war; er hatte es geahnt, gewußt, daß er sicher wieder auftauchen werde, und hatte es bereits erwartet; auch stammte dieser Gedanke keineswegs erst von gestern her. Aber der Unterschied lag darin, daß dieser Gedanke vor einem Monate, ja selbst gestern noch, lediglich ein Phantasiegebilde gewesen war, jetzt aber… jetzt ihm auf einmal nicht als Phantasiegebilde, sondern in einer neuen, furchtbaren, ganz unbekannten Gestalt entgegentrat; und er selbst wurde sich dessen sofort bewußt. Es war wie ein Schlag vor den Kopf, und es wurde ihm dunkel vor den Augen.
Er sah sich hastig um; er suchte etwas. Er wollte sich hinsetzen und suchte eine Bank. Er befand sich augenblicklich auf dem K…-Boulevard. Eine Bank stand ein kleines Stückchen vor ihm, etwa hundert Schritte entfernt. Er ging, so schnell er konnte, nach ihr hin; unterwegs aber hatte er ein kleines Erlebnis, das ihn für kurze Zeit hinderte, an etwas andres zu denken.
Während er die Bank ins Auge faßte, bemerkte er eine Frauensperson, die etwa zwanzig Schritte vor ihm ging; indes beachtete er sie anfangs gar nicht, ebensowenig wie er alles andere beachtet hatte, was an seinem Auge vorübergeglitten war. Es war ihm schon oft begegnet, daß er nach Hause kam und sich schlechterdings nicht des Weges erinnern konnte, den er gegangen war; es war ihm schon zur
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