Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
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Название: Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher

Автор: Стендаль

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788026824862

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СКАЧАТЬ ein wenig die Augen. Es war der Abbé Castanède! Die eine der beiden Stimmen war Julian von Anfang an bekannt vorgekommen.

      Julian hatte maßlose Lust, die Welt von einem der gemeinsten Schurken zu befreien. Aber er sagte sich:

      »Ich habe meine Mission zu erfüllen!«

      Schließlich verließen die beiden Spione das Zimmer. Eine Viertelstunde später tat Julian, als sei er eben aufgewacht, und alarmierte das ganze Haus.

      »Man hat mir Gift gegeben!« rief er laut. »Ich habe schreckliche Schmerzen!«

      Er wollte einen Vorwand haben, um Geronimo zu Hilfe zu kommen. Er fand ihn halbtot von dem Opium im Weine.

      Julian war auf derartige Scherze gefaßt gewesen. Deshalb hatte er seinen Wein nicht getrunken. Es gelang ihm nicht, den Sänger munter zu bekommen. Vom Weiterreisen wollte der gleich gar nichts wissen.

      »Und wenn man mir das ganze Königreich Neapel böte«, erklärte Geronimo, »ich verzichtete nicht auf meinen himmlischen Schlummer.«

      »Und die sieben regierenden Fürsten?« mahnte Julian.

      »Die können warten!«

      Julian fuhr allein ab und gelangte ohne weitere Zwischenfälle zu der hohen Persönlichkeit. Ein ganzer Vormittag ging ihm verloren, ohne daß er Audienz erlangen konnte. Glücklicherweise machte der Herzog gegen vier Uhr einen kleinen Spaziergang. Julian sah ihn zu Fuß weggehen und beeilte sich, ihn wie ein Bittsteller anzusprechen. Als er sich dem hohen Herrn auf zwei Schritte genähert hatte, zog er die Uhr des Marquis von La Mole und hielt sie so, daß dieser sie sehen mußte.

      »Folgen Sie mir von weitem!« sagte der Fürst, ohne ihn anzusehen.

      Nach einer Viertelstunde betrat der Herzog ein kleines Restaurant.

      In einem Stübchen dieses armseligen Lokals hatte Julian die Ehre, Seiner Durchlaucht die vier Seiten aufzusagen. Als er damit fertig war, sagte der Herzog: »Bitte, noch einmal und langsamer!«

      Der Fürst machte sich Notizen.

      »Gehen Sie zu Fuß zur nächsten Poststation. Lassen Sie Ihre Sachen und Ihren Wagen hier. Reisen Sie auf einem beliebigen Wege nach Straßburg, und am 22. dieses Monats (man schrieb den 10.) finden Sie sich um halb ein Uhr wieder hier in diesem Restaurant ein. Gehen Sie erst in einer halben Stunde und seien Sie schweigsam!«

      Mehr bekam Julian nicht zu hören. Es genügte, um Julian mit der höchsten Bewunderung zu erfüllen. »Also so«, sagte er sich, »so wickeln sich Staatsaktionen ab! Was hätte der große Staatsmann wohl gesagt, wenn er die leidenschaftlichen Schwätzer von vorvorgestern mit angehört hätte?«

      Julian brauchte zwei Tage, um nach Straßburg zu gelangen. Er machte einen Umweg. Er hatte ja Zeit.

      Der Abbé Castanède, das Oberhaupt der Ordenspolizei an der Nordgrenze, hatte Julian zu seinem Glücke nicht erkannt. In Straßburg dachten die Jesuiten trotz ihres heiligen Eifers nicht daran, Julian zu beobachten. Er sah in seinem blauen Rocke mit der Ordensrosette ganz aus wie ein junger Offizier in Zivil, der sich nur mit sich selbst beschäftigte.

      54. Kapitel

      Gezwungen, acht Tage in Straßburg zu verweilen, suchte sich Julian in ruhmreiche kriegsgeschichtliche und vaterländische Erinnerungen zu vertiefen.

      War er eigentlich verliebt?

      Er wußte es nicht, aber das fühlte er in seiner Seelennot, daß Mathilde die Alleinherrscherin über seine Gemütsstimmung wie über seine Gedankenwelt war. Er hatte all seine Willenskraft nötig, um sich vor der Verzweiflung zu bewahren. An etwas zu denken, das in keiner Beziehung zu Fräulein von La Mole stand, war er nicht imstande. Ehedem, bei Frau von Rênal, hatten ihn seine ehrsüchtigen Träumereien und kleinen Eitelkeitserfolge dem reinen Zustand der Verliebtheit entzogen; Mathilde ließ nichts neben sich aufkommen. Wenn er in die Zukunft schaute, sah er immer nur sie. Und allerwegen in dieser Zukunft erblickte er Erfolglosigkeit. Er, der in Verrières voller Überhebung und Hochmut gewesen, war der lächerlichsten Bescheidenheit verfallen.

      Noch vor drei Tagen hätte er den spionierenden Pfaffen am liebsten ermordet. Jetzt in Straßburg hätte er jedem Kinde recht gegeben, das in Streit mit ihm geraten wäre. Wenn er an die Widersacher und Feinde zurückdachte, die er im Laufe seines Lebens gehabt hatte, war es ihm, als hätte er – Julian – immer unrecht gehabt. An diesem Wandel seiner Selbstbeurteilung war einzig und allein der Umstand schuld, daß seine zügellose Einbildungskraft, die ihm bisher glänzende Zukunftsbilder vorgegaukelt hatte, mit einem Male zu seiner unversöhnlichen Feindin geworden war.

      Die völlige Einsamkeit des Reiselebens machte seine verdüsterte Phantasie noch dunkler. Einen Freund bei sich zu haben wäre ihm ein Labsal gewesen. So aber sagte er sich: »Wo auf der Welt schlägt für mich ein Herz? Und selbst wenn ich einen Freund hätte, müßte ich als Ehrenmann schweigsam sein wie ein Grab.«

      In seiner Melancholie machte er Spazierritte in die Umgegend von Kehl, einem Orte, der durch Desaix und Gouvion Saint-Cyr auf immerdar berühmt geworden ist. Ein deutscher Bauer zeigte ihm die Rheininseln und das Gelände, wo sich die Bravour jener großen Generale betätigt hatte. Die Zügel in der Linken, hielt Julian in der Rechten die vortreffliche Karte, die des Marschalls Saint-Cyr Denkwürdigkeiten schmückt. Plötzlich hörte er ein freudiges »Hallo!«.

      Es war Fürst Korasoff, sein Londoner Freund, der ihn vor ein paar Monaten in die Anfangsgründe des höheren Dandytums eingeweiht hatte. Ganz im Sinne dieser erhabenen Kunst begann Korasoff, der seit gestern in Straßburg und seit einer Stunde in Kehl war und nie im Leben eine Zeile über die Belagerung von 1796 gelesen hatte, einen längeren Vortrag über dieses Ereignis zu halten. Der deutsche Bauer sah ihn verdutzt an, denn er verstand genug Französisch, um zu merken, daß der fremde Herr argen Unsinn vorbrachte. Julian freilich dachte himmelweit anders. Er betrachtete die Schönheit des jungen Mannes und bewunderte seine reiterliche Grazie.

      »Welch ein Sonntagskind!« dachte er bei sich. »Wie tadellos seine Breeches sitzen und wie elegant sein Haarschnitt ist! Wenn ich so ausgesehen hätte, wäre Mathilde meiner Liebe nicht bereits nach drei Tagen überdrüssig geworden.«

      Als der Fürst seinen Vortrag beendet hatte, sagte er zu Julian: »Sie sehen aus wie ein Trappist. Sie übertreiben den Grundsatz von der Würde, den ich Ihnen in London doziert habe. Eine trübsinnige Miene ist gegen den guten Ton. Man muß gelangweilt aussehen. Wenn man traurig aussieht, zeigt man damit, daß einem etwas fehlt, daß einem irgend etwas mißglückt ist. Das heißt: man zeigt sich inferior. Sehen Sie hingegen gelangweilt aus, so ist jeder, der vergeblich sucht, Sie für sich einzunehmen, der Inferiore. Begreifen Sie, wie stark Geringschätzung imponiert!«

      Julian warf dem Bauern, der Mund und Ohren aufsperrte, einen Taler zu.

      »Jetzt gefallen Sie mir schon wieder besser«, bemerkte der Fürst und setzte sein Pferd in Galopp. Julian folgte ihm in sinnloser Bewunderung. »Wenn ich so wäre wie Korasoff, dann hätte Mathilde nicht an Croisenois mehr Gefallen gefunden als an mir«, seufzte er. Aber wenn sein gesunder Menschenverstand auch Anstoß an den Albernheiten des Fürsten nahm, so verachtete er sich selber doch nur um so mehr, dieweil er ihn bewunderte und sich unglücklich fühlte, nicht auch so zu sein. Sein Widerwillen vor sich selbst war grenzenlos.

      Dem Fürsten fiel Julians großer Trübsinn abermals auf. Als sie in Straßburg ankamen, fragte er ihn: »Verehrtester, haben Sie all Ihr Geld verloren, oder sind Sie in irgendeine kleine Schauspielerin verliebt?«

      Die Russen ahmen die Sitten der Franzosen nach, sind ihnen dabei aber immer СКАЧАТЬ